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Poesie der kleinen Dinge

von ruprecht
14. Dezember 2015
in Feuilleton, Literatur, Startseite
Lesedauer: 3 Minuten
0
Poesie der kleinen Dinge

Peter Kurzeck bei einer Lesung 2005. Dieses Jahr erschien „Bis er kommt“, sein Romanfragment.

Wieder sehen lernen: Mit Peter Kurzecks Romanfragment „Bis er kommt“ unterwegs in die neue Aufrichtigkeit.

[dropcap]S[/dropcap]pätestens seit der ersten Sendung des wiederaufgewärmten „Literarischen Quartetts“ liest jeder Karl Ove Knausgårds autobiographische Erinnerungsprosa. Schonungslos, verstörend, ungeschliffen. Adjektive, die man mit Peter Kurzeck nicht unbedingt in Verbindung bringt. Auch er schreibt sein Leben auf und verwaltet Erinnerungen – aber ganz ohne Hang zum Pathos, zur Trägodie. Die leisen Töne sind es, die in Kurzecks Büchern dominieren. Beobachtungsminiaturen, kein emotionaler Vorschlaghammer. Sein auf zwölf Bände angelegter Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“, an dem er seit den Neunzigerjahren arbeitete, ist eine Kartographie des eigenen Lebens und Schreibens, abgeleitet aus einem Erinnerungsimperativ als moralischer Verpflichtung. Als Kurzeck im November 2013 im Alter von 70 Jahren starb, hinterließ er einen umfangreichen Nachlass mit Materialien zur Fortführung des großangelegten Romanprojekts, aus dem nun der sechste Band der Reihe als Fragment erschienen ist.
„Nachts aufwachen! Jäh ein Schreck! Wo bin ich? Und wer? Wer gewesen?“ Ohne Umschweife, in der für Kurzeck typischen Stakkatosyntax beginnt der Roman und gleich dem Erzähler ist man irritiert, weiß nicht, in welcher Geschichte man hier eigentlich steckt. Doch nach und nach fällt Kurzeck wieder ein, wer er ist. Und das Bild gewinnt allmählich Konturen. Wir sind in Frankfurt am Main, es ist der Herbst des Jahres 1983. Der Erzähler – von dem man versucht wäre zu denken, er sei Kurzeck höchstpersönlich, wäre dieser nicht ein mit allen stilistischen Wassern gewaschener Autor, der sich seine Wirklichkeitserinnerungen eben nicht einfach ungeschliffen von der Seele schreibt, sondern sie strukturiert, filtert, poetisiert – der Erzähler also ist frisch arbeitslos, hat Frau und Kind und verbringt seine Zeit neben dem Schreiben vor allem mit Espressotrinken, Spazierengehen und Telefonieren. Damit ist über die „Handlung“ des Romans eigentlich fast alles gesagt. Es passiert nicht viel in „Bis er kommt“. Aber wie es nicht passiert, das ist bei Kurzeck oft so atemberaubend eindringlich und anrührend geschildert, dass es einem die Sprache verschlägt.

Kurzeck_Cover
Peter Kurzeck „Bis er kommt“, Romanfragment Hrsg. von Rudi Deuble und Alexander Losse Stroemfeld Verlag 384 Seiten, geb. 24,80 Euro

„Sich nur ja nicht verzetteln“ ermahnt sich der Erzähler an einer Stelle – aber dafür, dass er es dann doch unaufhörlich tut, ist man als Leser dankbar. Auch die schriftstellerische Arbeit, deren Beschreibung einen großen Teil des Romans ausmacht, hat bei Kurzeck mit kreativer „Verzettelung“ zu tun. Er schreibt nicht nur alles auf, sondern auch auf alles: Briefumschläge, Kassenzettel, Teebeutelpapier. Dass der Erzähler und Kurzeck hier nicht weit voneinander entfernt sind, zeigt ein Blick in den sorgsam edierten Anhangteil der Ausgabe. Etwa die Hälfte des Romans liegt als auskomponierter Text vor, anderes Material liefern die Herausgeber in transkribierter und teils faksimilierter Form. So lässt sich anschaulich nachverfolgen, wie Kurzecks Aphorismen – beispielsweise der als Motto vorgesehene Satz „Immer nachts, das hast du als Kind schon gewußt, nachts ist man allein auf der Welt“ – von der ersten Niederschrift durch handschriftlich annotierte Typoskripte schließlich in den gedruckten Text wandern.
Alles zum Schreibmaterial verwandelnd und frei assoziierend geht Kurzeck also mit kindlicher Bereitschaft zum Staunen durch die Stadt und macht dabei aus einem Flohmarkt, einer Stehpizzeria, aus fremder Leute Parkplatzsuche wahre Prosafeuerwerke, durch die man scheinbar Unscheinbares neu sehen lernt. Aber auch wenn das exaltiert Tragische nicht Kurzecks Genre ist – nicht alles in diesem Roman ist so sorglos bohèmeartig, wie es auf den ersten Blick wirkt. In Kurzecks schriftstellerischer Arbeit, seinem Streben nach der Aufrichtigkeit des eigenen Zeugnisses, seinem Kampf um das Erinnern schlummert tragisches Potenzial. Nur ist es literarisch raffinierter und emotional subtiler umgesetzt als in anderer autobiographischer Prosa. Ein Grund zur Freude also, dass in den nächsten Jahren noch weiteres Material aus Kurzecks Nachlass erscheinen soll.

Von Tim Sommer

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