Politikwissenschaft klingt nach Spannung und Erkenntnis. Die Realität sieht oft leider anders aus. Vieles ist oberflächlich und unverlässlich, meint unser:e Autor:in. Ein anonymer Erfahrungsbericht
Studierende der Politikwissenschaft sollten wissen, worauf sie sich einlassen. Schon Abiturient:innen ist bekannt, dass man in dieser „brotlosen Kunst“ kaum praktische Fertigkeiten erlernt. Die Dozierenden sehen das ganz ähnlich. Ein sehr liebenswürdiger Professor vom Institut für Politische Wissenschaft erzählt manchmal von einem Schaffner der Deutschen Bahn, der ihn aus seinen Studientagen wiedererkannt hat.
Brotlosigkeit ist immer ein Problem. Besonders fragwürdig ist sie jedoch in Zeiten des Fachkräftemangels in einem Land mit einem hervorragenden Ausbildungssystem. Im Gegensatz zu vielen Fächern an der Uni ist Politikwissenschaft nicht wirtschaftlich nützlich.
Aber vielleicht erzielt das Fach dann immerhin durchschlagende Erkenntnisse über seinen Gegenstand? Erfüllt es die Politik mit Sinn, sodass die Dinge plötzlich einleuchten und alles gedanklich seinen Platz findet?
Leider nein. Die sogenannten Theorien der Politikwissenschaft sind meist ad hoc zusammengeschusterte Common-Sense-Erklärungen. Sie ähneln intellektuellen Dauerprovisorien eher als soliden Theoriegebäuden.
Manchmal scheitern solche Theorien an Realitäten wie Russlands Invasion der Ukraine oder der Implosion Afghanistans. Beides kam überraschend für eine Wissenschaft, in der Vorhersagen ein Glücksspiel sind und die ihren Kanon der Nachrichtenlage anpassen muss.
Wenn man das Theoretisieren lässt, bleibt nur die Einzelfallanalyse. Dann ist jedoch die Abgrenzung zur Geschichtswissenschaft oder selbst zum Journalismus eminent angreifbar. Dies wiederum berührt das Selbstverständnis des Faches in seinem Kern. Wenn wir keine verlässlichen Theorien haben und unser Bereichswissen zu großen Teilen aus den Medien zusammenklauben können, was zeichnet uns dann aus gegenüber anderen politisch Kundigen? Diese Frage stellt sich auf allen Karrierestufen. Der berühmte Klaus von Beyme hat in seinem letzten Buch, Migrationspolitik, ein gutes Dutzend Mal Wikipedia zitiert. Das ist nicht nur schlechte Praxis, die alle üblichen Mahnungen an Erstis ad absurdum führt. Es zeigt auch, dass selbst ein Titan des Faches sich Politik auf denselben Wegen erschloss wie Otto und Erna Normalbürger:in.
Alles in Powi ist vertretbar, und alles ist anfechtbar. Wenn Erstis, die gut mitdenken, weitgehend etablierte Erkenntnisse infrage stellen können, kann es mit der Reife des Faches nicht weit her sein. Selbst die eine sicherste Theorie, die vom demokratischen Frieden, sieht sich einem Dutzend alternativer Erklärungen gegenüber. Manche Theoriedebatten sind so gestaltlos, dass man an ihnen verzweifeln mag. Ein Seminar fragt, ob eine Institution ein „Akteur“ oder eine „Arena“ ist. Mit welcher Hoffnung auf Fortschritt in der Sache sollte man eine Veranstaltung besuchen, deren begriffliche Grundlagen so offen und unausgereift sind? Ähnlich im viel diskutierten Bereich des Populismus. Hier ist man sich nach Jahrzehnten der Debatte noch immer uneins, zu welcher Kategorie er überhaupt gehört: Logik, Stil oder doch eher Ideologie?
In der wissenschaftlichen Schwäche des Faches könnte ein Grund für seine fehlende Nutzbarkeit liegen – ein Bindeglied zur Brotlosigkeit. Wenn Vorhersagen vorhersehbar scheitern und jede Kausalerklärung ein Unikat ist, können Handlungsempfehlungen nicht glaubhaft sein. Mit Elektrolyse lässt sich Geld verdienen, weil sie gut verstanden und technisch beherrschbar ist. In Powi kann man froh sein, wenn man Sternchen in seinen Regressionstabellen findet.
Viele Probleme des Faches liegen in der Natur der Sache. Sie mögen aus der Komplexität der Politik folgen. Manches ist jedoch selbstverschuldet. Man ziert sich, psychologische Variablen wie Intelligenz oder autoritäre Neigung ernsthaft mit einzubeziehen. Nicht alles am Menschen ist schmeichelhaft, aber vieles an ihm ist politisch relevant: Intelligentere Menschen gehen eher wählen als weniger intelligente; stärker autoritär Veranlagte wählen eher rechts.
Momentan zieht das IPW viele Studierende an, die sich eher unverbindlich für Politik interessieren und das Studium bloß instrumentell sehen. Das mag in einem gewissen Maß auch bei anderen Fächern der Fall sein. Viele von denen sieben jedoch gnadenlos aus oder nehmen von Beginn an deutlich weniger Studierende auf. Zu sieben ist schwer in einem Fach, in dem Mathematik nahezu freiwillig ist, und in dem man ansonsten Gründe für und wider jede Aussage findet.
Es ist schwer und unangenehm, jemandem hierfür Schuld zuzuweisen. Denn fast alle Dozierenden des IPW sind nette und angenehme Menschen. Sie nehmen die Studierenden ernst und sind aktiv an deren Beiträgen interessiert. In unglücklichen Situationen zeigen sie viel Entgegenkommen.
Gleichzeitig stellen die Dozierenden die besten Powi-Studierenden von einst dar – die chosen few, deren Können und Interesse am Fach größer waren als die aller anderen. Wenn diese Spitzenleute nun mit dem breiten Spektrum an Studierenden interagieren, ist der Gegensatz oft kaum zu übersehen. Es ist längst nicht nur die Erfahrung, die den Unterschied macht. Wir sehen dies an manchen unserer Kommiliton:innen, die offenbar aus demselben Holz geschnitzt sind.
Selektion für Spitzenleistungen führt wohl immer zu einem solchen Gefälle. Solide Fächer haben der Masse ihrer Studierenden jedoch mehr zu bieten als die Befriedigung liebhaberischen Interesses an der Sache. Und wenn selbst dieses Interesse nicht allzu stark ausgeprägt ist, weshalb geht man dann einen Weg ohne jedes klare Berufsbild? Es bleibt vieles unausgesprochen zwischen Dozierenden und Studierenden.
Was sollte man als Powi-Studierende:r tun? Nehmt die Angebote der Uni ernst, so paradox es scheinen mag. Der Career Service kann euch dabei helfen, ein Profil zu finden, das aus der Unbestimmtheit des Faches heraussticht. Wenn diese etwas Gutes hat, dann, dass sie uns viel Freiraum und Entwicklungspotenzial lässt. Zum Glück sind viele von uns in Projekten neben der Uni eingebunden. Macht etwas daraus! Natürlich sind auch Praktika sinnvoll.
All das hilft aber nur uns selbst – nicht dem Fach und nicht der Gesellschaft. Eine naheliegende Lösung ist, dass das IPW viel weniger Studierende aufnehmen sollte. Die reduzierte Auswahl würde aber wahrscheinlich zu schlechteren Politikwissenschaftler:innen der nächsten Generation führen. Auch finanziell wäre sie katastrophal für das IPW.
Momentan wird dieses jedoch mit der Zeit und den Lebenswegen schlauer junger Leute bezahlt, die anderswo von großem Nutzen für die Welt sein könnten. Was, wenn die Biontech-Gründer:innen sich eher für Politik interessiert hätten als für Medizin?
Eine Schrumpfkur könnte für das Institut auch heilsam wirken. Viele Geisteswissenschaften kommen bereits mit weniger Studierenden aus. Oft sind das genau jene Leute, die für das Fach brennen – genau die Sonderlinge mit ungewöhnlichen Interessen, die Dozierende der brotlosen Künste sich wünschen.
Die Lage des IPW ist sicher auch deshalb anders, weil Politik ein prominenteres und stärker meinungsbefrachtetes Thema ist als byzantinische Sphragistik. Das Land braucht aber keine Heerscharen von Politikwissenschaftler:innen, und das wissen alle Beteiligten.
von ruprecht