Eine neue Verfassung, EU-Austritt, Ehe für alle – in vielen Ländern werden historische Entscheidungen per Referendum getroffen. Auch in Deutschland wollen fast alle Parteien bundesweite Volksentscheide einführen. Würde das unserer Demokratie gut tun?

ist Mitglied beim Verein „Mehr Demokratie“, der Volksentscheide auf Bundesebene fordert. Bild: privat
Wohin steuert unsere Gesellschaft bei den zentralen Fragen, zum Beispiel bei der Zukunft der Arbeit, dem Umgang mit dem Klimawandel oder bei sozialer Gerechtigkeit? Die Antworten darauf sind eng verflochten mit der Frage nach der Art und Weise, wie wir Demokratie leben. Bundesweite Volksentscheide können ein Schlüsselinstrument für Zukunftsthemen sein. Durch sie können sich alle Bürger/innen einbringen und Antworten auf Sachfragen jenseits der Logiken des Parteienwettbewerbs entwerfen.
Art. 20 Abs. 2 GG besagt, dass die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Doch auf Bundesebene steht die Einführung von Volksentscheiden als punktuelle Ergänzung der repräsentativen Demokratie noch aus. Mehr Demokratie e.V. bietet mit einem Gesetzentwurf Orientierung: Ziel muss es sein, Initiativen aus der Gesellschaft und den Parlamenten gleichermaßen zu stärken. Grund- und Minderheitenrechte sind dabei, wie bei der parlamentarischen Gesetzgebung auch, durch das Verfassungsgericht zu schützen.
These 1: Volksentscheide wahren die Interessen der Bevölkerung gegenüber den Abgeordneten.
Volksentscheide erfüllen zwei Funktionen: die des Politik-Motors, indem neue Ideen eingebracht werden, und der Politik-Bremse. Als Bremse wirken zum Beispiel fakultative Referenden. Nach der Verabschiedung eines umstrittenen Gesetzes können Bürger/innen Unterschriften für ein Referendum sammeln. War die Sammlung erfolgreich, wird das Gesetz der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Erst wenn die Mehrheit zustimmt, tritt es dann in Kraft.
Wichtig ist: es gibt keine einheitlichen Interessen der Bevölkerung. Bei jeder Abstimmung findet sich nach einer umfassenden Debatte eine neue Mehrheit, ein neuer Volkswille zusammen. Und: Volksentscheide verlangen die konstruktive Teilhabe der Bürger/innen. Wo sich viele Menschen einsetzen, bieten sie eine effektive Möglichkeit des Agenda-Settings und der Intervention. Das Motto lautet: nicht nur meckern, selbst aktiv werden.
These 2: Volksentscheide sind anfällig für Lobbyismus.
Eine Studie der US-Politologin Gerber deckte ein Paradoxon auf: je stärker bei den Unterstützern einer Volksinitiative die Wirtschaft dominiert, desto geringer die Erfolgschancen. Zudem belegen ihre und ähnliche Untersuchungen, dass sich finanzstarke Gruppen häufiger gegen Initiativen engagieren, als dass sie selbst per Volksbegehren aktiv werden. Für Lobbyisten ist es generell erheblich aufwändiger den Ausgang von Volksentscheiden zu beeinflussen, als andere Formen des Lobbyings zu nutzen.
Gleichwohl fordert Mehr Demokratie für Volksinitiativen Spendentransparenz, damit klar wird, welche Interessen dahinter stecken. Andersherum sollte es jedoch auch staatliche Kostenerstattungen für erfolgreiche Initiativen geben, damit nicht nur Organisationen mit viel Kapital Initiativen starten können.
These 3: Volksentscheide verhindern Kompromisse.
Volksentscheide fordern Entscheidungen und Kompromisse sind eine Form der Entscheidung. Vom Start einer Sammlung bis zum Entscheid vergehen mehrere Jahre. In dieser Zeit entsteht ein öffentlicher Diskussionsraum. Es gibt Platz für Debatten und ebenso für Einigungen. Im Allgemeinen trägt allein das Recht der Bürger/innen, selbst Initiativen einbringen zu können, dazu bei, dass die gewählten Vertreter/innen sich frühzeitig um einen guten Dialog und tragfähige Kompromisse bemühen.
Ein Vorschlag aus dem Gesetzentwurf von Mehr Demokratie e.V. lautet: wenn sich Bundestag, Bundesrat und Initiatoren nach einem Volksbegehren auf einen Kompromiss einigen, dann kann das Volksbegehren zurückgezogen werden oder der Kompromiss steht zusätzlich mit zur Abstimmung. Generell soll der Bundestag auch immer einen eigenen Alternativvorschlag mit zur Abstimmung stellen können.
Von Christian König