Lange Zeit nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten ein Begriff, ist der russische Pianist Grigory Sokolov heute auf dem Zenit seiner Karriere angekommen. Anfang des Jahres erschien eine langerwartete CD-Einspielung, nun gastierte Sokolov mit einem vom Publikum umjubelten Klavierabend beim Musikfestival Heidelberger Frühling. Was ist dran am „Mythos Sokolov“?
Grigory Sokolov twittert nicht. Auch ein eigenes Facebook-Profil hat er nicht. Der 1950 in St. Petersburg geborene Pianist macht hauptsächlich eines: Klavier spielen. Und das ausschließlich alleine. Seit Jahren gibt er nur noch Klavierabende. Er spielt keine Kammermusik, er spielt nicht als Solist mit Orchester. Dass er das mit monomanischer Selbstaufgabe tut (oder eben nicht tut), ohne sich dabei selbst medial zu inszenieren, unterscheidet ihn von vielen seiner Kollegen. Die Betonung liegt allerdings auf dem Wort „selbst“. Denn wo es Sokolov fern zu liegen scheint, sein Spiel und seine Persönlichkeit zu vermarkten, haben Musikkritik, Konzertveranstalter und Plattenfirmen dem russischen Pianisten schon längst das Image eines weltfremden Asketen verpasst. Verwunderlich ist das nicht – schließlich ist das Bild vom ästhetisch kompromiss- und ökonomisch interesselosen Künstlerpropheten schon immer ein Verkaufsargument gewesen.
Ein reiner Werbehype ist der „Mythos Sokolov“ aber trotzdem nicht. Wer Sokolov einmal im Konzert erlebt hat, wird nachvollziehen können, warum mantraartig in mindestens jeder zweiten Kritik von seiner „sakralen Aura“ die Rede ist. Das romantische Bild vom Priestertum des Künstlers wird für Sokolov oft bemüht, und das nicht immer ganz zu Unrecht. Sokolov lächelt nicht. Sein Frack – welcher modebewusste Pianist trägt heutzutage noch Frack? – hat etwas Soutanenartiges. Der Gang zum Instrument, die Verbeugung, Gestik und Mimik – der gesamte Abend scheint einer durchchoreographierten Liturgie zu folgen. Und wenn Sokolov auch heute noch als „Geheimtipp“ bezeichnet wird, dann schwingt durchaus die Vorstellung einer okkultistisch verschworenen Anhängerschaft mit, für die ein Klavierabend schnell zur spiritistischen Sitzung mutiert. Vom Prestige der „Geheimtipp“-Rhetorik profitiert jeder – Publikum, Kritik und Plattenlabels – verleiht sie doch allen Akteuren kritische Distinktion und den Anschein eines geschulten Urteilsvermögens.
Ein Geheimtipp ist Sokolov heute allerdings ganz und gar nicht mehr. Mittlerweile hat er sich still und leise, ganz ohne explizite Werbekampagnen, eine viel größere Bekanntheit erspielt. Das Paradoxe daran ist, dass er das zu großen Teilen den vom ihm so wenig bedienten neuen Medien verdankt. Die zahllosen, den Nimbus der Authentizität suggerierenden illegalen Konzertmitschnitte und verwackelten Handyvideos, die auf Portalen wie Youtube zirkulieren, die virtuelle Mundpropaganda, die auf Facebook und in Internetforen betrieben wird, haben an Sokolovs Erfolg der letzten zehn Jahre sicher keinen geringen Anteil. Vorbei die Zeiten, in denen Sokolov in der Berliner Philharmonie nur im Kammermusiksaal spielen durfte. Heute muss das Publikum sogar im großen Saal auf der Bühne platznehmen. Auch Sokolovs Konzert beim diesjährigen Musikfestival Heidelberger Frühling ist ausverkauft. Der große Saal der Stadthalle ist bis auf die letzte Reihe gefüllt, auf dem Balkon tummeln sich dutzende Stehkarteninhaber. Und irgendwie ist es wie ein Klassentreffen – man scheint einander zu kennen, überall wird gefachsimpelt: die Verzierungen in der Bach-Partita? Apart. Das „Largo“ der Beethoven-Sonate? Herrlich. Und sein Schubert? Fast wie Schnabel. Oder doch eher Richter?
Sokolovs wachsende Beliebtheit bei einem immer größeren Publikum ist sicherlich auch ein Grund für seinen bisher größten Coup: Nachdem er jahrelang auf relativ kleiner Flamme vom französischen Plattenlabel naïve/Opus111 vertreten wurde, wechselte er letztes Jahr zur Deutschen Grammophon, einer der traditionsreichsten und umsatzstärksten Plattenfirmen auf dem Klassikmarkt. Bei diesem Label erschien Anfang des Jahres auch seine erste Aufnahme seit fast zwanzig Jahren. Eine kleine Sensation. Und da Sokolov natürlich nicht im Studio aufnimmt und natürlich schon gar nicht nach Ansage einer Plattenfirma, ist die aktuelle Produktion ein Live-Mitschnitt eines Klavierabends bei den Salzburger Festspielen 2008 geworden. Auf der Doppel-CD findet sich größtenteils Altbekanntes: im ersten Teil zwei Mozart-Sonaten, im zweiten Teil dann die Préludes von Chopin und die bei Sokolov stets zahlreichen Zugaben, sechs Miniaturen von Rameau bis Skrjabin. Über die Wahl gerade dieses Konzertprogramms lässt sich streiten. Von den Préludes gibt es schon eine faszinierende Aufnahme Sokolovs, die in den 1990er Jahren bei einem Pariser Klavierabend entstanden ist. Sicher hätte man aus dem scheinbar reichlich vorhandenen Archivmaterial der letzten Jahre ein etwas ungewöhnlicheres Programm wählen können – etwa Sokolovs famose Schumann-Interpretationen der letzten Jahre. Immerhin, das neue Label wird vermutlich darauf dringen, dass demnächst weitere Veröffentlichungen folgen.
Von solchen Einwänden abgesehen: Sokolovs Spiel beim Salzburger Klavierabend ist grandios. Schon bei den ihm eigentlich nicht wesensverwandten Mozart-Sonaten gibt es überwältigende Momente, wie das herrliche Adagio aus der F-Dur Sonate KV 280, dessen arienhafte Kantilene einem in Sokolovs Interpretation durch Mark und Bein geht. Die schnelleren Ecksätze der beiden Sonaten zeigen mit ihren makellos artikulierten Passagen ein weiteres Charakteristikum von Sokolovs Spiel. Was dann auf der zweiten CD mit den Chopin-Préludes folgt, ist schlichtweg atemberaubend. Zwar wirkt die mittlerweile ein Vierteljahrhundert alte Pariser Aufnahme gelegentlich schwungvoller, an die emotionale und intellektuelle Durchdringung der Salzburger Einspielung reicht sie aber nur selten heran. Mehr als einzelne Nummern überzeugt die dramatische Struktur, in die Sokolov diese vierundzwanzig so unterschiedlichen Stücke fasst. Manchmal lässt er sie unmerklich ineinander fließen, ein andermal sucht er die schroffen Kontraste in Charakter und Dynamik.

Mit Magie hat das alles aber trotzdem wenig zu tun. Auch Sokolov kocht nur mit Wasser. Allerdings oft besser als viele seiner Kollegen. Das ist wohl seiner Konzentration auf einzelne Soloprogramme zu verdanken, die er akribisch einstudiert und bloß im Halbjahresrhythmus wechselt. Das Niveau, das Sokolov dadurch erreicht, ist oft schwindelerregend. Auch wenn er dadurch verlockt manchmal ins Exaltierte abdriftet, sind seine Konzerte – und davon gibt die aktuelle CD-Veröffentlichung eine gute Kostprobe – eindrucksvolle Ereignisse, die sicher keine reine Erfindung der Musikkritik sind.
Das trifft auch auf Sokolovs Heidelberger Konzert zu. Was er hier aus einem eher konventionellen Programm – Bachs B-Dur Partita, eine frühe Beethoven-Sonate, im zweiten Teil die etwas sperrige a-Moll Sonate und die „Moments Musicaux“ von Schubert, dem er sich in den letzten Jahren immer mehr zuwendet – hervorzaubert, ist Klavierspiel auf allerhöchstem Niveau. Sein Bach – den er nach russischer Manier mit allen möglichen Pedalen, aber auch mit einem Schuss Glenn Gould spielt – funkelt an allen Ecken, bei der teilweise ungestümen D-Dur Sonate von Beethoven lässt er sich viel Zeit, arbeitet Oktaven und Tonleiterpassagen wunderbar schillernd heraus. Und nachdem er sich besonders im Schlusssatz der Schubert-Sonate kalkuliert hat gehen lassen, überrascht er in den intimer gehaltenen „Moments Musicaux“ mit Klangfarbennuancen, die man sonst selten hört. Bei seinen wie beim Salzburger Rezital insgesamt sechs Zugaben kehrt Sokolov zu seiner großen Liebe Chopin zurück, spielt dessen Mazurken so herrlich, dass man sich wundert, wie Chopin jemals das Image eines Salonkomponisten bekommen konnte. Sokolovs größte Meisterschaft zeigt sich oft in den scheinbar einfachsten Stücken, den simpelsten Melodielinien. Virtuosengeplänkel im traditionellen Sinn gibt es selbst in seinen Zugaben nicht.
Irgendwie fragt man sich also doch immer nach dem Geheimnis hinter dem Mythos. Doch die Erklärung zumindest dafür, dass Sokolov immer wieder als Ausnahmekünstler stilisiert wird, seine Konzerte zu außeralltäglichen, das Maß des Gewöhnlichen transzendierenden Ereignissen verklärt werden, ist relativ simpel: In einer sich immer schneller drehenden Klassikwelt, in der immer neue und doch immer gleiche Künstler verheizt werden, in der es, klischeehaft gesprochen, immer mehr um Kommerz und immer weniger um Kunst geht – in einer solchen Welt bedient Sokolov ein nostalgisches Bedürfnis nach interesseloser Kunstausübung. Nach alter Schule. Und – um bei der religiösen Metaphorik zu bleiben – nach der Verbindung von protestantischer Arbeitsethik und katholischer Mystik.
von Tim Sommer
[box type=“shadow“ ]Grigory Sokolov, „The Salzburg Recital“, Deutsche Grammophon, 2 CDs, 23,99 Euro. Reinhören könnt ihr hier.[/box]