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In 140 Minuten durch Berlin

von ruprecht
26. Juni 2015
in Feuilleton, Film & Theater, Startseite
Lesedauer: 3 Minuten
0
In 140 Minuten durch Berlin

Sonne (Frederick Lau) zeigt Victoria (Laia Costa) das nächtliche Berlin. Bild: Polyfilm

Mit „Victoria“ legt Regisseur Sebastian Schipper einen der bemerkenswertesten deutschen Filme der letzten Jahre vor. Dabei kommt das temporeiche Drama ohne hohes Budget und technische Tricks aus – und ohne einen einzigen Schnitt.

Das deutsche Kino hat keinen besonders guten Leumund und fristet ein Nischendasein im Schatten der Glamour-Welt Hollywoods, immerfort um Aufmerksamkeit gegen die schier übermächtige Konkurrenz aus Übersee ringend. Sebastian Schippers Echtzeitdrama „Victoria“ hingegen lässt es nicht nur aufleben, sondern zeigt vielmehr wie gewaltig deutsches Kino sein kann, wenn es mutig ist und sich auf seine Stärken besinnt. Der Film kommt gänzlich unkonventionell ohne einen einzigen Schnitt aus; 140 Minuten wurden am Stück und mit einer Kamera aufgenommen. Doch „Victoria“ ist nicht nur deshalb eine Meisterleistung.

Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) lernt eines Nachts auf einer Party in Berlin vier schräge, aber liebenswürdige junge Männer kennen. Eine eingeschworene Gemeinschaft und fast niedliche Gang. Schnell kommen sich Victoria und Sonne (Frederick Lau) näher. Was als unverbindliche Blödelei auf den nächtlichen Straßen beginnt, wird jedoch bald zu einer ernsten Angelegenheit. Um eine Altschuld zu begleichen, müssen die Freunde noch in derselben Nacht eine Bank überfallen. Da ihr vierter Mann volltrunken ausfällt, springt Victoria notgedrungen als Fahrerin ein.

Es liegt auf der Hand, dass ohne millionenschwere Budgets, modernste Technik und Hochglanzmarketing der Zugang zum Film ein anderer sein muss. Schippers Weg ist mutig und voller unkonventioneller Entscheidungen, die sich in der Folge jedoch allesamt als stechende Trümpfe erweisen. An der Spitze dessen steht zweifelsohne der Entschluss, den Film an einem Stück zu drehen. Von 4:30 bis um 7 Uhr stand das Team vor der Kamera; drei Versuche brauchte es, bis der Film im Kasten war. Es ist diese einzigartige Perspektive, die dem Film eine immense Intensität verleiht. Der Zuschauer ist zu jeder Zeit am Puls des Geschehens. Die sechste Person der Truppe, welche die Freuden und das Leid unmittelbar miterlebt. Nicht bloß Beobachter des Banküberfalls, sondern unmittelbarer Teil davon. Der Zuschauer wird durch Intimität gefesselt und auf diese Weise stärker in das Filmgeschehen gezogen, als es teure technische Tricks zu leisten vermögen.

Was auf dem Papier noch Fragen aufwirft, erweist sich in der filmischen Umsetzung als einwandfrei funktionierendes Konzept. Kameramann Sturla Brandth Grøvlen ist nah am Geschehen wenn es sein muss, nimmt dem Zuschauer jedoch nicht den strukturierenden Überblick über die Szene. Der Marathon-Dreh ist ferner eine logistische Meisterleistung, denn in der 140-Minuten-Szene legen die Protagonisten einiges an Metern durch Berlin zurück. Von Clubbesuchen über Autofahrten, Tiefgaragen, Häuserdächern und Hotels. Man kommt nicht aus dem Staunen heraus, rekapituliert man, wie strukturiert und gut getimt alles wirkt.

Und trotzdem ist vieles improvisiert. 140 Minuten exakte Positionierung von Schauspielern und Kamera lassen sich nicht bis ins Detail vorausplanen. Auch die Dialoge sind zu großen Teilen improvisiert, das Drehbuch dient lediglich als Orientierung. Und selbst dieser vermeintliche Makel, das Aus-der-Hand-Geben der Entscheidungen in die Hände der Schauspieler, fügt sich am Ende als ein notwendiger Mosaikstein zum runden Gesamtbild. Als Sonne das Café, in dem Victoria arbeitet, versehentlich als Hotel bezeichnet, blitzt diese Improvisation auf. Jeder konventionelle Film hätte die Szene wohl sofort von neuem begonnen. Lau repariert es in seiner Rolle: Er habe sich halt versprochen, verwirrt wie er sei. Natürlich sei es ein Café und kein Hotel. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass die Besetzung das Konzept und die Inhalte optimal vermitteln kann.

Als weiteren gelungenen Kniff lässt Schipper Victoria als Spanierin permanent untertiteltes Englisch reden, während die Männer sich untereinander selbstverständlich auf Deutsch unterhalten. Aus dem Sprachkonflikt resultiert ein herrlich berlinerisches Denglisch, was ebenso improvisiert daherkommt und dem Film obendrein eine höchst humorvolle Note verleiht. Schlussendlich komplettiert Nils Frahms stets angemessener Soundtrack das Gesamtbild, von packendem Drive bis hin zu ruhig-berührenden Tönen. Und so entwickelt „Victoria“ einen berauschenden Sog, der den Zuschauer in den ersten Augenblicken in seinen Bann lockt, mitreißt und immer tiefer in das Geschehen hineinzieht. Ihn die Emotionen hautnah erleben und in sich eröffnende Abgründe blicken lässt. Um ihn am Ende nicht mehr loszulassen und ganz mit sich selbst allein zu lassen.

von Jesper Klein

[box type=“shadow“ ]Beim Deutschen Filmpreis 2015 gewann „Victoria“ sechs der begehrten Goldenen Lolas. Unter anderem für den besten Film sowie die beste männliche und weibliche Hauptrolle.[/box]

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