Prof. Dr. med. Helmut Seitz gilt als einer der renommiertesten Alkoholforscher. Mit dem ruprecht spricht er über die Folgen des Konsums und warum weniger mehr ist

Herr Professor, Sie sind unter anderem Gastroenterologe. Was hat es damit auf sich?
Die Gastroenterologie ist Teil der Inneren Medizin und befasst sich mit dem, was unter dem Zwerchfell ist. Da beschäftigt man sich mit Krankheiten, die Organe des Bauchraums befallen, wie zum Beispiel den Magen, die Leber und noch mehr. Bestimmte Stoffwechselkrankheiten gehören auch zur Gastroenterologie.
Welche Rolle spielt Alkohol in Ihrer Forschung?
Ich forsche bald 50 Jahre zu Alkohol. Meine Arbeitsgruppe und ich haben ungefähr 500 internationale Publikationen zu diesem Thema. Konzentriert haben wir uns auf Lebererkrankungen und Krebs. Damals in den 80er-Jahren konnten wir als die Ersten nachweisen, dass Alkohol Dickdarmkrebs verursacht. Dabei ist Dickdarmkrebs die häufigste Krebsart in Deutschland.
Was macht die Forschung zu Alkohol so interessant?
Alkohol ist ein ganz kleines „Molekülchen“ mit nur zwei Kohlenstoffatomen, aber Alkohol greift in nahezu alle Stoffwechselwege ein. Wir haben hier eine kleine Substanz, die alles verändert. Alkohol ist ein Zellgift und das macht sich klinisch bemerkbar, indem Krankheiten fast überall im Körper auftauchen können.
Wie viele Krankheiten stehen mit Alkohol in Verbindung?
Mehr als 200. Eine große Rolle spielen Lebererkrankungen. Durch Alkohol erkranken in Europa jedes Jahr eine halbe Millionen Menschen an der Leber. Dazu kommt Krebs: zum Beispiel Mund-, Rachen-, Darm- oder Magenkrebs und was nur Wenige wissen: Auch Brustkrebs bei der Frau zählt dazu! Wir sprechen da über 7.000 bis 10.000 neue Brustkrebs-Fälle jedes Jahr, die von Alkohol mit ausgelöst werden. Das ist schon ordentlich. Dazu kommen Muskel-, Knochen- und Nervenerkrankungen sowie Stoffwechselstörungen.
Welche Gruppen sind besonders gefährdet?
Frauen und junge Menschen sind bei Alkohol empfindlicher – das zeigt die Forschung ganz klar. Für Kinder und Jugendliche ist Alkohol besonders fatal. Im jungen Alter befindet sich der Körper in einer empfindlichen Phase und reagiert auf Alkohol entsprechend. Hier ist das Risiko psychosomatischer Erkrankungen groß und auch das Risiko, später im Leben an Krebs zu erkranken wird höher. Bei Studenten wiederum gibt es kaum umfassende Daten, doch ich halte übermäßigen Alkoholkonsum auch dort für gefährlich. Ich denke da an sogenanntes Binge-Drinking, das heißt mehr als fünf alkoholische Getränke in einer Stunde zu sich zu nehmen. Ganz kritisch sind natürlich Studentenverbindungen, die systematisch bis zum Erbrechen trinken.
Wie viel darf man denn überhaupt trinken?
Alkohol ist immer schädlich. Deswegen gibt es keine seriösen Grenzwerte. Denn wie gesagt, Alkohol wirkt überall im Körper und jedes Organ hat eine eigene Toleranz. Die Leber ist relativ robust: Wenn Sie über einen längeren Zeitraum drei Gläser Wein die Woche trinken, wird sie vielleicht fertig damit. Das nützt Ihnen aber nichts, da andere Organe, wie die weibliche Brustdrüse, viel empfindlicher sind. Sie müssen den ganzen Körper im Auge behalten. Außerdem: Die Leber tut nicht weh, weswegen Lebererkrankungen häufig erst spät erkannt werden. Oft hat die tödliche Zirrhose schon eingesetzt, dann ist es leider zu spät. Die ärztliche Empfehlung ist also: Verzicht – gar kein Alkohol. Ich selbst trinke aber auch Alkohol. Wenn Sie unbedingt trinken wollen, dann ist Vorsicht geboten. Auf gar keinen Fall täglich. Und setzen sie sich klare Grenzen: nicht mehr als zum Beispiel ein oder zwei Getränke. Behalten Sie die Kontrolle über Ihren Konsum.
Ist es an der Zeit unseren Umgang mit Alkohol grundlegend zu verändern?
Klar ist, wir Deutschen trinken zu viel. Man sagt, wir sollen auf die Vernunft des Einzelnen setzen, doch wir können auch an ein paar Stellschrauben drehen. Drei Dinge: Werbung verbieten, die Verfügbarkeit einschränken und Preise hoch. Wir wissen, dass das funktioniert: In Finnland zum Beispiel.
Was wünschen Sie sich, wie wir mit Alkohol umgehen sollten?
Ich würde mir wünschen, dass wir uns den Risiken bewusster wären. Ich würde mir wünschen, dass Frauen über das Brustkrebsrisiko aufgeklärt werden. Und wir sollten insgesamt weniger trinken. Pro Jahr trinkt jeder Deutsche zehn Liter reinen Alkohol – das ist viel zu viel. Dabei zahlen wir jährlich 60 Milliarden Euro für die Folgen im Gesundheitswesen. Wenn wir den Konsum reduzieren, auf sieben Liter, hätten wir medizinisch schon viel gewonnen. Damit hätten wir auch eine spürbare finanzielle Entlastung erreicht.
Das Gespräch führte Till Siegert
...studiert Politikwissenschaften und Philosophie. Er interessiert sich für Politische Theorie und schreibt am liebsten für das Feuilleton.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.









