„Mein Körper, meine Entscheidung.“ Bereits in den 1970er und 1980er Jahren kämpften Frauen um das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Molli Hiesinger, Mitgründerin des Heidelberger Frauenzentrums, gibt einen Einblick in die damalige lokale Frauenbewegung. Sie erzählt dem ruprecht von ihrem Aktivismus als Studentin, selbstorganisierten Hollandfahrten und illegalen Abtreibungen in Heidelberg.
Frau Hiesinger, wie blicken Sie auf Ihre bisherige Laufbahn zurück?
Ich verließ nach dem Abitur 1968 meine gemütliche südhessische Heimat, um in ein aufregendes neues Leben aufzubrechen: nach Heidelberg. Die Studentenbewegung und das Studium der Germanistik und Politologie lockten mich. Mein Engagement im SDS und im Asta, Gründung der Frauenbewegung und des radikalen Frauenkabaretts „Paranoia“ standen für mich nicht im Widerspruch zu meinem Lebenslauf: Ich war Lehrerin an beruflichen Schulen, gründete eine Familie und war Journalistin in Italien. Aktuell bin ich Kuratorin des wunderbaren Projekts „Eine Stadt schreibt“ in Heidelberg.
Gab es in Ihrem Leben einen bestimmten Moment, bei dem Sie realisierten, dass Sie als Mädchen benachteiligt waren und etwas aktiv dagegen tun müssen?
Man wird ja nicht als Frau geboren, sondern als Mensch. Als Kind landet man plötzlich in Heppenheim in der Altstadt in einer Nachbarschaft mit vielen Hühnern, Pferden und Kühen. Da denkt man, das ist „das“ Leben. Ich wuchs da hinein und stellte irgendwann fest, dass ich die Einzige an meiner Schule in Heppenheim bin, die evangelisch ist und dann war das plötzlich ein Thema für mich. Es war das erste Thema, was unangenehm für mich war. Auch ging ich dann in einen Kindergarten mit Nonnen. Da wollte ich aber schon nach dem ersten Tag nicht mehr hin. Nicht, weil ich ein Mädchen war, sondern weil ich unerträglich war. Ich bin nach Hause gegangen und habe gesagt: „Da gehe ich nicht mehr hin.“ Meine Eltern hatten Verständnis dafür und sagten mir, dass ich da nicht mehr hin muss, wenn ich nicht will. Das war das erste Mal, dass ich gespürt habe, dass mein Wille wirksam ist. Ich habe einen Willen, ich will da nicht hin und ich habe als Kind eine Begründung dafür. Das hatte aber nichts mit meinem Dasein als „Mädchen“ zu tun.
Sie haben mal gesagt: „Warum kriege ich an Weihnachten ein silbernes Messer geschenkt? Ich wollte einen Finnendolch mit Blutrinne haben, zum Beispiel.“
Das mit dem Dasein als „Mädchen“, das kam als ich meine Geschenke verglichen habe. Ich habe gesehen, dass es einen Finnendolch mit einem Pferdemessingkopf und einer Blutrinne gibt, den man sich an den Gürtel hängen konnte. Das fand ich toll und wollte es haben. Meine Eltern waren skeptisch, warum ein kleines Mädchen einen Finnendolch haben sollte. Aber mein Großvater hat gesagt: „Wenn sie einen Finnendolch haben will, dann kriegt sie einen.“ Also habe ich diesen Finnendolch bekommen.
Meine Erfahrungen als Mädchen waren auch, dass ich als Mensch kriege, was ich will. Aber ich war die Einzige, die einen Finnendolch hatte. Also musste ich mir Gedanken darüber machen: „Die anderen Mädchen … was machen die denn? Die laufen da mit ihren Röckchen herum und so weiter und reden mit piepsigen Stimmen.“ Das hat mir nicht gefallen. Wir hatten Verwandte in Amerika, von denen wollte ich dann Jeans haben. Ich war aber das einzige Mädchen, was 1956 in einer Jeans rumlief.
Da wurde mir das alles dann langsam klar. Ich habe das bekommen, was ich wollte, eckte aber auch langsam an. Die anderen guckten und sagten zu mir „Das kannst du doch nicht machen.“ Zu meinem Vater wurde gesagt, dass er seine Tochter doch nicht so mit einem Rollkragen und Jeans rumlaufen lassen kann. Ab diesem Punkt merkte ich, dass es etwas gibt, was man als Mädchen einfach macht, wie zum Beispiel die Beine schräg übereinanderschlagen. Das „muss“ man als Mädchen machen, das sind die Regeln und das mochte ich nicht. Ich war mit diesem Gedanken allein, denn ich hatte keine Verbündeten. Aber das hat mir nichts ausgemacht.
Hatten Sie damals dann im Sozialistisch Deutschen Studentenbund (SDS) mehr Verbündete? Sie meinten, Sie hätten damals auch das Problem mit dem Anecken gehabt und wurden unter anderem als „Lesbe“ betitelt.
Für mich war es damals selbstverständlich, den Mund aufzumachen. Ich kam 1968 im Alter von 17 Jahren nach Heidelberg, um Germanistik und Politikwissenschaften zu studieren. Ich bin sofort in das Marstallcafé gelaufen, was heute ja immer noch dort ist. Oben im ersten Stock waren damals die Mitgliederversammlungen des SDS. Dort bin ich also sofort rein, ohne auch nur irgendjemanden zu kennen und sagte, dass ich Mitglied im SDS werden möchte. Alle haben mich irre komisch angeguckt und sich gefragt, wer ich denn sei, was ich wollte und was ich mir überhaupt denke. Daraufhin hielt ich eine kleine Rede. Anschließend hat Joscha Schmierer, der später den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) gegründet hat, zu mir gesagt: „Nein, wir wollen dich nicht. Das, was du sagst, ist Anarchismus. Wir sind hier eine sozialistische Organisation. Wir lesen Marx, Lenin, Stalin.“ Ich erwähnte, dass ich das ebenfalls tue. Daraufhin wurde eine Abstimmung abgehalten und ich wurde aufgenommen.
Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass diese großen Führer wie Gunter Mangold oder Joscha Schmierer so etwas wie „Platzhirsche“ waren. Sie haben etwas angeordnet und so wurde das dann auch umgesetzt. Die Frauen hatten dabei nur eine wichtige Funktion im SDS: Das Essen zu kochen und nachts an der Schreibmaschine zu sitzen, um die Flugblätter abzutippen. Ich konnte das nicht fassen. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die lieb, freundlich und verständnisvoll war. Ich habe jedoch in dieser Familie rebelliert und jetzt kam ich in diese „neue“ Familie des SDS, die so schlimm autoritär war. Sowas hatte ich zuhause nie erlebt. Nie. Dieses Autoritäre hat keiner von meiner Familie damals verlangt.
Was haben Sie damals im SDS hinsichtlich der Geschlechterrollen alles beobachten können?
Es gab Aktionen und Besetzungen an der Universität sowie „Go Ins“, zum Beispiel im großen Senat. Dort haben die SDS-Mitglieder mit Eiern rumgeworfen. Ich erinnere mich an einen Fall, als eine Genossin des SDS mit einem Korb hinter einem Mann hinterherlief. Dabei hat sie diesem Genossen dann immer das Körbchen hingehalten, damit er Eier werfen konnte. Das alles war überhaupt nicht das, was ich wollte.
Dann kam es zur sogenannten „sexuellen Befreiung“ durch die Antibabypille. Nun hatten die Männer die Auffassung, dass nichts mehr passieren könne, weil Frauen ja nicht mehr schwanger werden können. Die Genossen haben dann also einfach zu den Frauen gesagt, dass sie die Nacht mit ihnen verbringen sollen. Irgendwie fanden das die Genossinnen sexy, wenn beispielsweise so ein Burkhart von Braunbehrens so etwas zu ihnen gesagt hat. Er war ja gutaussehend, männlich, charismatisch und hat gute Reden gehalten. Wenn der dann zu dir gesagt hat, dass man mit ihm nach Hause gehen soll, dann bist du mit dem mitgegangen. Ich fand das unmöglich. Deswegen meinten die anderen dann zu mir: „Was bist du denn? Bist du lesbisch?“ Wenn man also nicht mit diesen Männern mitgegangen ist, war man für sie lesbisch.
Das hat mich sehr enttäuscht, weil ich von Rebellion und Freiheit geträumt habe. Damals ging es ja nicht nur ums „Frau sein“, denn die Zeit war geprägt von Dingen wie dem Kalten Krieg, Jimmy Hendrix, den Rolling Stones oder dem Vietnamkrieg. Demnach hatten wir unheimlich viel zu tun. In Spanien tobte zum Beispiel immer noch der Faschismus und es wurden Todesurteile ausgesprochen. Dort wurden Menschen mit einer Garotte noch im Jahre 1974 hingerichtet, während deutsche Touristen am spanischen Strand lagen. Sowas hat mich empört und deswegen wollte ich aktiv sein. Daraufhin haben wir Kirchen besetzt und für spanische Frauen wie Eva Forest demonstriert. Es war überhaupt kein Thema für mich, dass ich nicht mit irgendwelchen ungewaschenen Männern aus dem kommunistischen Milieu ins Bett gehen wollte. Zu mir wurde aber dann immer gesagt, ich wäre als Person zu viel. Meine Mutter oder meine Exmänner haben es oft zu mir gesagt.
Denken Sie, dass die Menschen damals diese Meinung über Sie hatten, weil Sie eine Frau waren und wenn Sie ein Mann gewesen wären, dann hätten sie ganz anders auf Sie reagiert?
Das kann schon sein. Damals gab es verschiedene Arbeitskreise, hauptsächlich aber über Marx oder Lenin. Ich wollte unbedingt in einen Arbeitskreis über den italienischen Ökonom Piero Sraffa. Zu mir wurde aber dann gesagt, ich könne diesem Arbeitskreis nicht beitreten. Als ich nach dem Grund gefragt habe, kam als Antwort „Weil du eine Frau bist.“ Ich fragte erneut warum, denn ich hatte vieles über ihn gelesen und wollte darüber diskutieren. Erneut stieß ich auf Ablehnung mit der Begründung, dass Frauen nur von der Diskussion ablenken würden, weil sie die Tendenz dazu hätten, von dem wegzukommen, was dort steht und worüber gesprochen wird. Frauen würden ja immer auf andere Sachen zu sprechen kommen, weil sie so stark assoziieren würden.
Bei meiner Mutter habe ich den Satz „Weil du eine Frau bist“ ebenfalls öfter gehört, auch als ich schon längst verheiratet war und ein Kind hatte. Beispielsweise fragte sie mich, warum ich den Koffer meines Mannes nicht packe, wenn er nach Italien reist. Ich antwortete: „Ich habe ein Kind, ich arbeite mit vollem Deputat, ich organisiere Literaturwettbewerbe und Fahrten zur Buchmesse nach Leipzig und mein Mann ist arbeitslos. Deswegen soll er seinen Koffer doch selbst packen.“ Daraufhin entgegnete mir meine Mutter „Egal, du bist die Frau.“
Meine Mutter hat heimlich in der Buchhaltung in einer Parfümerie gearbeitet. Mein Vater durfte das damals aber nicht wissen. Zu dieser Zeit war es Frauen nicht erlaubt, ohne die Erlaubnis des Ehemannes arbeiten zu gehen. Sie durfte aufgrund dessen damals kein Geld bekommen, deswegen wurde es ihr in Form von Ware für den Haushalt ausgezahlt. Ich fand es unheimlich traurig, dass sie das meinem Vater nicht sagen konnte. In den 1960er Jahren galt es nämlich als Armutszeugnis, wenn die Frau „mitarbeiten“ musste.
Hat Ihr Vater es jemals herausgefunden, dass Ihre Mutter gearbeitet hat?
Er hat es später herausgefunden und dabei fürchterlich gelacht. Meine Mutter hatte einfach eine typische Frauenbiographie: Hochtalentiert, aber nicht gelebt. Sie konnte unheimlich gut singen, Theater spielen und Reden schreiben. Beispielsweise hat sie für meinen Vater welche geschrieben, die er dann gehalten hat. Er bekam viel Applaus für „seine“ tollen Reden. Dabei hat er jedoch nie erwähnt, dass meine Mutter sie für ihn geschrieben hat. Meine Mutter wusste aber, dass er jetzt eine Rede hält, die sie für ihn geschrieben hat. Das schien sie angeblich glücklich gemacht zu machen. Sie selbst hat nie Reden gehalten.
Viele Frauen heutzutage machen gar nicht Gebrauch von alldem, was sie heute überhaupt machen könnten, was sie leben könnten. Damit meine ich nicht so etwas wie die Welt erobern oder überall hinfahren, sondern einfach mal zu gucken „Was ist denn meins? Was kann ich denn?“
Sie haben gesagt, dass Sie sich engagieren wollten. Wie genau haben Sie das im Rahmen der Universität getan?
Wir haben uns ständig in den Seminaren gezeigt. Es gab kein Seminar, wo wir nicht das Thema des Feminismus gesucht haben. Ich habe Politikwissenschaften sowie Germanistik studiert und egal ob bei den Germanisten oder bei den Politologen, dieses Thema war immer dabei. Als ich Tutorin für eine Veranstaltung über politische Theorien war, habe ich den Feminismus als politische Theorie ausgewählt. Mein Professor entgegnete mir, dass es keine politische Theorie sei. Deswegen erklärte ich es damals selbst zur politischen Theorie. Es gab z. B. im 19. Jahrhundert bürgerliche Frauenbewegungen mit entsprechenden theoretischen Schriften. Was ist also der Unterschied zum Sozialismus? Wenn jemand über den Sozialismus schreibt, dann ist das doch genauso wie, wenn eine Frau über den Feminismus schreibt.
Deswegen habe ich vor über 40 Jahren an der Universität Heidelberg ein Tutorium über den Feminismus gehalten. So etwas gab es damals einfach noch nicht. Vom Professor wurde das Tutorium leider nicht anerkannt. Bei meiner Abschlussprüfung wollte ich aber zu diesem Thema geprüft werden. „Naja, dann müssen wir das anders formulieren“ und „Das können wir so eigentlich nicht machen“ musste ich mir dann anhören. Aber auch bei den Germanisten in den Seminaren gab es damals schon einen Zug in die Richtung des Feminismus. Aus Spaß haben wir damals auch die Sprache verändert. Aus Mannheim wurde Frauheim et cetera.
Im Laufe Ihrer Studienjahre in den 1970er Jahren fanden in Deutschland immer mehr verstärkt Frauenproteste für das Recht auf Abtreibung statt. Sie mussten miterleben, wie eine Kommilitonin von Ihnen für eine Abtreibung nach Jugoslawien fuhr, nur um dann auf dem Rückweg an einer Verblutung zu sterben. Es wurde gesagt: “Die Reichen können nach England fliegen, die Armen müssen auf dem Küchentisch liegen!” Daraufhin gründeten Sie mit Ihren fünf Kommilitoninnen im Herbst 1972 eine Frauengruppe in Heidelberg. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Die Parole: „Die Reichen können nach England fliegen, die Armen müssen auf dem Küchentisch liegen“ hat zu einer Spaltung zwischen den Frauen in der Frauenbewegung geführt. Das waren eher Parolen der kommunistischen Frauenbewegung, denn die Abtreibung war nach ihnen ein soziales Thema. Für uns war es aber ein Frauenthema, da selbst eine unfreiwillig schwanger gewordene Millionärsfrau leidet. Es ist ein Schmerz, denn jede Abtreibung ist eine Beschädigung. Es ist ein Eingriff, der weh tut. Keine Frau macht das gerne. Oft wurde es so gesehen, als wäre eine Abtreibung etwas, was man mal so nachmittags in London macht, denn dafür sind sehr viele nach London geflogen: „Kaffeekränzchen und dann eine Abtreibung“.
Keine einzige Frau – und ich habe jahrelang Schwangerschaftsberatung gemacht – hat sich mit Freude auf eine Abtreibung vorbereitet. Es waren immer Schmerzen verbunden mit diesem fürchterlichen Alleinsein. Dieses alleine im Badezimmer stehen und auf den Strich gucken: „Gott, ich bin schwanger? Was mach ich? Ich habe doch Prüfungen! Ich will doch studieren und hab kein Geld!“ Das sind die Fragen, die man sich in dem Moment stellt und nicht „Habe ich auf dem Bankkonto tausend Mark?“
Wurden damals in Heidelberg auch illegal Abtreibungen durchgeführt?
In Heidelberg wurden illegal Abtreibungen für teilweise tausend Mark durchgeführt. Es gab zum Beispiel einen Arzt in der Bergstraße in Heidelberg, der sich daran eine goldene Nase verdient hat. Er hat hemmungslos die Frauen ausgenutzt. Als Vergleich: Ich habe damals für meine Wohnung in Heidelberg als Studentin 110 Mark gezahlt. Eine Abtreibung kostete tausend Mark. Es hat zehnmal mehr gekostet als eine Miete. Um das bezahlen zu können, musste man hart arbeiten.
Wir hatten aber Glück, dass die Amerikaner hier stationiert waren. Wir haben in Kneipen gearbeitet und dann zehn Dollar Trinkgeld bekommen. Mit drei Stunden Arbeit hatte man damals also schon die Miete drinnen. Aber dennoch, das zu finanzieren und dabei diesen persönlichen Schmerz zu erleben, das hat uns zu alldem gebracht. Das waren neben mir noch Hanka aus Polen und Fabienne aus der Schweiz und so weiter. Wir waren aus vier verschiedenen Nationen und haben gesagt: „Es geht um die Frauen.“ Es geht nicht um die reichen Frauen, es geht nicht um die armen Frauen. Es geht um den Schmerz der Frauen, der durch diese Kriminalisierung noch mal verstärkt wird. Es geht um die Ermächtigung: Es ist doch mein Körper.
Ganz früher, da gehörten aber die Frauen den Männern. Die Frucht, die da entstanden ist, gehörte dem Mann. Später gehörte diese Frucht dem lieben Gott. Immer gehörte das, was sich in mir abspielte, jemand anderem. Das führte zu einer gewissen Schizophrenie. Ich habe da drinnen etwas, was ich für jemand anderen, für den Adolf Hitler, für den Gott oder für den Mann, austragen muss. Aber es ist doch mein Körper. Es ist mein Schmerz. Es ist doch meine Seele, die in diesem Körper lebt und die in Frieden leben will. Die will nicht krank sein.
Frauen haben schon immer abgetrieben, ob es diese Gesetze gab oder nicht. Und je härter diese Gesetze waren, desto gefährlicher war es und desto mehr Frauen sind gestorben. Und diese Studentin, die in Jugoslawien abgetrieben hat, ist tatsächlich auf dem Heimweg aufgrund einer Verblutung gestorben. Daraufhin war für uns Schluss, denn wir waren so unheimlich wütend.
Wie lief das damals mit der Organisation für die Hollandfahrten ab?
Wir haben damals die Busse nach Holland mit 30 Frauen pro Bus organisiert, die alle für eine Abtreibung hin sind. Aber es ist verrückt, denn ich versuche mich an damals zu erinnern, aber es fällt mir nicht mehr ein. Es war simpel: Wir haben die Busse organisiert und sind dann nach Holland gefahren. Ich weiß aber nicht mehr, ob wir an der Grenze gestoppt worden sind. Da ich Schwangerschaftsberatung durchführte, hatte ich auch ein gewisses Netzwerk. Wir hatten alle Adressen von Ärzten und Kliniken in Heidelberg, die illegal Abtreibungen durchführten. Im Nachhinein fällt mir auf, wie spektakulär diese Hollandfahrten damals eigentlich waren.
Wenn wir noch einen Blick auf die öffentliche Wahrnehmung des §218 werfen wollen, kommen wir an einer bestimmten Stern-Ausgabe nicht vorbei. Nach französischem Vorbild erschien am 6. Juni 1971 die bis heute bekannte Stern–Ausgabe „Wir haben abgetrieben“ in Deutschland, die als Initialzündung der modernen deutschen Frauenbewegung in Deutschland gilt. Welche Auswirkungen hatte diese Stern-Ausgabe auf Ihr eigenes Engagement bezüglich §218?
Ich stelle mir das ein bisschen so vor wie Bären, die aus dem Winterschlaf hervorkriechen. Über dieses Thema redet man eigentlich nicht in der Öffentlichkeit. Das ganz große Tuch, was über allem lag, war die Scham. Weil diese Scham da war, wurde nichts gesagt. Man hätte es der Familie nicht gesagt, nicht der eigenen Mutter, dem Bruder, der Schwester, einer Freundin. Einfach niemandem. Man war komplett allein und als diese Ausgabe erschien, ist so ein bisschen der Winterschlaf zu Ende gegangen. Es kam der Gedanke auf, dass diese Frauen es auch durchlebt haben. Aber es waren in dieser Ausgabe prominente Frauen, man hat sich also nicht allzu sehr damit identifiziert. Es ging nur damals ganz langsam damit los. Alice Schwarzer sagte immer: „Oh, jetzt bekomme ich schon Briefe von Frauen mit vierstelligen Postleitzahlen.“ In der Zeit hatte Heidelberg damals zum Beispiel nur die 69 als Postleitzahl. Erst später kamen auch die Frauen mit den vierstelligen Postleitzahlen. Es war eine großstädtische, akademische Angelegenheit von prominenten Zahlen.
Das ist die Enttabuisierung gewesen, weil damit begonnen wurde einfach mal mit anderen darüber zu sprechen. Es kam zum Zeitpunkt, dass erst dann Großmütter oder Mütter davon erzählt haben, wie sie damals vergewaltigt worden sind bei der Flucht aus Schlesien oder dem Sudetenland. Die hätten ohne diese Ausgabe nie darüber gesprochen. Diese große Scham, die damit einherging, darüber hat man damals einfach nicht gerne gesprochen.
Es ist aber immer noch viel Schmerz dabei. Immer. Es geht nicht ohne Schmerz. Eine Frau, die das Kind nicht will, wird dazu mit diesem Gesetzt gezwungen. Wir haben ja immer noch den §218 im Gesetz stehen. Eine Abtreibung steht einfach immer noch nur mit Ausnahmen unter Strafe. Letztens erzählte mir eine junge Frau, wie sie zu der verpflichtenden Beratung musste und mit dem Satz begrüßt wurde: „Bevor wir uns überhaupt hinsetzten, sollen Sie wissen: Ich stehe auf der Seite Ihres Kindes!“ und deutete auf ihren Bauch. Dann hat sie einen großen Schreck bekommen. Es ist aber ein Unterschied, ob ein Ei zwei Wochen befruchtet ist oder ob es schon wirklich ein Kind ist. Wenn es ein richtiges Kind wäre, das auch alleine überlebensfähig wäre, dann wäre es Mord.
Frauen durften in der DDR schon ab 1950 berufstätig sein, ohne die Erlaubnis des Ehemannes zu benötigen, das Letztentscheidungsrecht des Ehemannes fiel bereits 1949 weg und im gleichen Jahr durften sie ohne die Einwilligung des Ehemannes den Führerschein machen. Das alles kam in der BRD teilweise erst 1958 bzw. 1977. Wie haben Sie damals mit diesem Wissen auf die DDR geblickt? Haben Sie sich die DDR zum Vorbild genommen?
Die DDR war in gewisser Weise wie eine Utopie. Es gab dort Frauen, die auf dem Traktor gefahren sind, die Ingenieurinnen waren, die abgetrieben und eine freie Sexualität gelebt haben. Aber dann hatte man wieder das andere Thema mit der Sowjetunion und dem Kalten Krieg. Beispielsweise kamen 1953 in Berlin russische Panzer an, die einen Arbeiteraufstand blutig niederschlugen. Männer wurden aus der DDR nach Moskau geschafft, um dort hingerichtet zu werden, weil sie nach freien Wahlen in der DDR verlangt haben. Verstehen Sie, dies waren alles so Sachen nach dem Motto „Wenn du das willst, musst du das andere mitnehmen“.
Also hat man diese anderen Ereignisse in der DDR nie getrennt von der Frauenbewegung betrachtet?
Nein, denn man hatte immer irgendwie Angst.
Haben Sie einen Rat an uns als nachfolgende Generation?
Es geht ja immer ums Bewusstsein und je mehr wir uns bewusstwerden, desto besser wird auch unser Handeln. Ich denke, dieses Aufrichtigsein ist im Moment für mich ein wichtiges Thema. Zu fragen: „Weiß ich genug? Bin ich wirklich informiert? Bin ich wirklich überzeugt?“
Mir gruselt vor Parolen, die sich schnell verbreiten und aus denen Kampagnen entstehen. Erzählgemeinschaften, die mit stereotypen Slogans arbeiten, erreichen oft schnell Glaubwürdigkeit und üben Druck aus. Meistens steckt Ideologisches dahinter. Davor warne ich. Ich finde es richtig, gute Gespräche zu führen, sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen, aufmerksam zuzuhören. Immer wieder seinen Verstand zu gebrauchen. Und der muss mit viel Wissen gefüttert werden.
Das Gespräch führte Sandy Placzek,
mitgewirkt haben Lisa Lang und Marie Dick
Sandy Placzek studiert Geographie, Geschichte sowie Biologie im Master of Education und ist seit Oktober 2023 beim ruprecht dabei. Sie interessiert sich besonders für (natur-)wissenschaftliche, historische und gesellschaftliche Themen, welche die Welt gerade so beschäftigen: Vom Klimawandel und Umweltschutz bis hin zur sozialen Gerechtigkeit.
Till Gonser studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.