Mit dem Tod eines Elternteils umgehen zu müssen, plant man in seinen Zwanzigern nicht ein. Eine betroffene Studentin erzählt
Es ist Mittwochabend und ich sitze mit Alexandra im Hörnchen in der Unteren. Man könnte denken, ich würde mich nach einem langen Unitag mit einer Freundin auf ein Bierchen treffen – und das tue ich irgendwie auch. Der Grund für unser Treffen ist allerdings nicht so bartauglich: Heute sprechen wir über Trauer. Alexandra und ich haben nämlich etwas Tragisches gemeinsam: Wir beide haben in unserer Studienzeit einen Elternteil verloren. Alexandras Vater ist erst vor vier Monaten verstorben. Im Juli 2023 bekam er die Diagnose Darmkrebs.
Seit der Diagnose veränderte sich Alexandras Leben schleichend. „Mitzuerleben, wie er durch die Chemotherapie und die Operationen zu einem alten, gebrechlichen Opa wurde, anstelle des Vaters, den ich kenne, hat mich sehr beschäftigt. Ich hatte dadurch viel weniger Energie für alles andere“, erzählt sie. Sie ging in den Überlebensmodus über, versuchte, ihren Alltag aufrecht zu erhalten, obwohl ihr alles schwerer fiel. Jedes Mal, wenn ihr Handy klingelte und ihre Mutter anrief, bekam sie Herzrasen aus Angst, dass sie jetzt die Nachricht erhält, dass ihr Vater gestorben ist. Ständig starrte sie auf den Chat mit ihrer Mutter und wartete auf Neuigkeiten. Es war eine Gratwanderung zwischen der Hoffnung, dass ihr Vater es schaffen könnte und der innerlichen Vorbereitung auf seinen Tod.
Nach dem Tod ihres Vaters sind ihre Gedanken vollkommen von ihm eingenommen, wie sie mir erzählt. Sie isoliert sich, trifft nur noch ihren Freund und ihre beste Freundin. Immer wieder fallen ihr Dinge ein, die während der Beerdigung oder in den letzten Monaten ihres Vaters passiert sind. Darauf zu achten, dass sie am Tag genug isst oder es schafft, duschen zu gehen, ist alles, wozu sie fähig ist. Für die Uni reicht ihre Energie zu dieser Zeit nicht aus – sie besucht weder ihre Vorlesungen noch geht sie zu ihren Praktika. Auch viele ihrer Klausuren schreibt sie nicht mit. Stattdessen ist sie damit konfrontiert, mitzuentscheiden, wie die Beerdigung ablaufen soll, wer eingeladen wird und in welcher Urne ihr Vater bestattet werden soll. Entscheidungen, die für die meisten Personen in ihren 20ern unvorstellbar sind. „Es fühlte sich so an, als würde ich auf dem Boden unter einem schweren Vorhang liegen“, erinnert sie sich an ihre Trauer. Einkaufen, Arzttermine oder selbst nur ein Buch zu lesen: Viele Alltagsaufgaben fielen Alexandra anfangs schwer. Sie erzählt mir, dass es Zeit gebraucht hat, bis sich diese Dinge wieder normal angefühlt haben. Vieles ist immer noch eine Herausforderung für sie: „Die Verarbeitung der Trauer ist ein Prozess, der im Hintergrund läuft. Das zieht viel Energie. Ich vergleiche oft, was ich vorher lernen konnte mit dem, was ich jetzt hinkriege, was frustrierend sein kann.“ Auch für soziale Interaktionen fehlt ihr oft die Kraft. Diese tragen jedoch ein großes Stück zur Normalität bei, weswegen es ihr wichtig war, sich das wieder zu erarbeiten. „Mit der Zeit ist der Vorhang durchsichtiger und leichter geworden, wie ein Schleier.“
Überrascht hat es Alexandra, wie schnell man mit der Zeit wieder in den Alltag zurückfindet. Diese neue Normalität ist jedoch eine ganz andere als die, die sie bisher kannte. Nichts ist so wie vorher und trotzdem geht es irgendwie weiter. Der Schleier und die Trauer bleiben und beeinträchtigen einen im Hintergrund. Während Betroffene noch trauern, rücken Klausurenphasen und Abgaben unweigerlich näher.
Um davon nicht überwältigt zu werden, bietet die Universität Heidelberg mehrere Möglichkeiten, die Adriana Lopez nach Angaben der Universität auf Anfrage erläutert hat. Wer für das Semester gerade keine Kraft hat, kann sich aus „sonstigen Gründen“, wie dem Tod eines Angehörigen, beurlauben lassen. Sollen nur einzelne Klausuren zu späteren Terminen geschrieben werden, muss man sich an die Fakultät wenden – hier greift das Prüfungsrecht, nach dem „unter Abwägung aller Umstände“ geprüft wird.
Dem ruprecht liegt ein Fall aus der Redaktion vor, in dem die Betroffene eine Freistellung vom Haupttermin der Prüfung beantragte. Diese wurde nicht gewährt. Begründung: Der Prüfungsausschuss könne nicht beurteilen, wie sehr der Tod ihrer Mutter sie belaste. In so einem Fall können Studierende beim Prüfungsausschuss Einspruch einlegen; ob diesem stattgegeben wird, ist allerdings nicht klar. Eine Pause vom Unistress ist also in der Theorie möglich – allerdings nur, wenn Betroffene einiges an Bürokratie auf sich nehmen. Kurz nach dem Tod eines Angehörigen fehlt jedoch genau dafür die Energie. Auch Alexandra war nach dem Tod ihres Vaters plötzlich damit konfrontiert, Anträge ausfüllen zu müssen, wie zum Beispiel für die Halbwaisen- rente.
Doch der Trauerprozess ist nicht immer nur traurig. „Ich selbst musste auf der Beerdigung meines Vaters lachen, weil der falsche Name auf der Urne stand“, erklärt Alexandra. Sie hat einen starken Drang, nicht in ihrer Trauer zu versinken. Gleichzeitig plagen sie Gewissensbisse, wenn es ihr gut geht und sie sich für eine kurze Zeit unbeschwert fühlt – als wäre es eine Dreistigkeit, nach dem Tod eines Elternteils jemals wieder glücklich zu sein.
Therapeutische Angebote, die rein auf Trauer ausgelegt sind, gibt es wenige. Die Psychosoziale Beratung für Studierende bietet eine Trauergruppe für Studierende, die einen Elternteil verloren haben. Zurzeit ist diese aber bis Ende 2024 ausgebucht. Alexandra sagt dazu: „Ich finde das sehr schade. Über meine Trauer zu reden, hilft mir viel. Ich würde mich sehr freuen, mit mehr Studis in ähnlichen Situationen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.“
Zumindest mich als Austauschpartnerin hat sie ja.
Eine Reportage von Heinrike Gilles, Claire Meyers und Bastian Mucha
Heinrike Gilles studiert molekulare Biotechnologie und ist seit dem Sommersemester 2023 beim ruprecht. Meistens schreibt sie wissenschaftliche Artikel oder über das studentische Leben. Seit November 2023 kümmert sie sich außerdem um die Website und den Instagram-Kanal des ruprecht.
Claire Meyers studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit anfangs des Wintersemester 2023/24 für den ruprecht. Besonders interessiert sie sich für Politik, schreibt aber auch gerne über Heidelberg oder kulturelle und gesellschaftliche Themen.
Bastian Mucha studiert irgendwas mit Naturwissenschaften (Molekulare Biotechnologie) und schreibt seit Sommersemester 2023 für den ruprecht. Neben der Leitung der Bildredaktion ist er vor allem für Illustrationen, Wissenschaft und Satire immer zu haben.
Till Gonser studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.