Der Bärenangriff wird dir wenigstens geglaubt. Ein bitterer Blick durch einen Onlinetrend auf die alltägliche Unsicherheit
Stell dir vor, du spazierst an einem schönen Frühlingstag alleine durch den Wald. Die Vögel zwitschern, die Blätter rascheln sanft im Wind, und der Duft von frischem Moos liegt in der Luft. Plötzlich knackt ein Zweig. Dein Herz rast, dein Puls steigt, dir fährt ein Schreck durch die Glieder, denn vor dir steht ein Bär. Oder noch schlimmer: ein Mann.
Wenn du in dieser Situation als Frau alleine im Wald wärst, wem würdest du lieber begegnen, einem Mann oder einem Bären? Diese Frage ging in den vergangen Wochen in den sozialen Medien viral. Laut der Süddeutschen Zeitung sagen sieben von acht Frauen eindeutig: einem Bären! Die auf Tiktok begonnene Debatte polarisiert, wird millionenfach geteilt und kommentiert. Man könnte meinen, dass die Fluchtreflexe auf Hochtouren laufen, doch weit gefehlt – es ist die bittere Realität einer Welt, in der Frauen ständig auf der Hut sein müssen. Es ist traurig und alarmierend zugleich, dass ein wildes Tier einem weniger Angst einflößt als ein Mitglied der eigenen Spezies.
Warum ist das so? Der Bär, so gefährlich er auch sein mag, folgt seinen Instinkten. Er wird angreifen, wenn er sich bedroht fühlt, aber er wird wohl kaum aus Bosheit handeln. Der Mann hingegen, das unbekannte Wesen in Menschengestalt, trägt die Verantwortung der Geschichten, die Frauen Tag für Tag hören und erleben. Geschichten von Übergriffen, Belästigungen und Gewalt. Der Mann im Wald symbolisiert eine potentielle Bedrohung, die nicht durch Instinkte, sondern durch menschliche Grausamkeit und Machtmissbrauch getrieben wird. Der zunächst amüsante Vergleich zeigt ein kontinuierliches gesellschaftliches Problem auf. Ein Bär im Wald ist eine klare Gefahr. Die Begegnung ist selten und meist vermeidbar. Der Mann hingegen ist allgegenwärtig und unberechenbar.
Es ist die Ungewissheit, die die Angst nährt. Während der Bär vor allem in unseren Albträumen lebt, lauert der unbekannte Mann an jeder Ecke der Realität. Die Argumente der Frauen, die im Internet ihre Meinung teilen, reichen von der Erwartbarkeit eines Bärenangriffs bis zum Gruselfaktor vor Männern. Schlimmstenfalls könne der Bär einen töten. Viele dieser Punkte beziehen sich auf Aussagen, die Frauen nach Übergriffen von Männern zu hören bekommen: „Der Bärenangriff wird mir wenigstens geglaubt“ oder „Niemand fragt, was ich anhatte“. Und wenn dich ein Bär angreift, sagt dir wohl kaum jemand, du hättest doch „nein“ sagen können.
Der Bär im Wald wird eine Metapher für die Sehnsucht nach einer Welt, in der Frauen keine Angst vor Männern haben müssen. Eine Welt, in der der wahre Feind nicht der Bär ist, sondern die Ignoranz und Untätigkeit gegenüber dem realen Problem. Die Frage nach Mann oder Bär berührt tief verwurzelte gesellschaftliche Strukturen, die Frauen seit Jahrhunderten unterdrücken und objektivieren. Männer sagen zu Debatten, in denen es um die Sicherheit von Frauen geht, oft: „Nicht jeder macht sowas, ich bin keiner davon!“. Es ist aber eben jede einzelne Frau, die von einer unangenehmen Situation, einem Gefühl von Unsicherheit bis hin zu Übergriffen von Männern berichten kann.
Es bleibt nur das Fünkchen Hoffnung, dass der Anblick eines fremden Mannes irgendwann genauso harmlos erscheint wie ein Spaziergang durch den Wald. Bis dahin bleibt zu sagen: „Nicht jeder Bär im Wald greift dich an, aber du weißt eben nicht welcher …“
Von Louisa Büttner
Till Gonser studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.