Der Vandalismus an der Gedenktafel für den Queer-Pionier Magnus Hirschfeld sorgte Ende April für Aufruhr. Unsere Recherche zeigt: Queerfeindliche Übergriffe sind auch in Heidelberg kein Einzelfall. Wie reagiert die „Rainbow City“ auf das veränderte Klima?
Es ist der 14. Mai 2025, Magnus Hirschfelds Geburtstag und sein 90. Todestag. Zwei Wochen zuvor wurde die erste Gedenktafel in Heidelberg für einen queeren Menschen von Unbekannten aus der Mauer seines ehemaligen Wohnhauses gerissen. An diesem Abend versammelt sich eine Menschenmenge vor dem Haus in der Sandgasse. Denn was geschehen ist, war mehr als Vandalismus. Für viele war es ein gezielter Angriff auf queere Geschichte und Öffentlichkeit.
Die Stadt Heidelberg reagierte schnell, ließ die Tafel mit Unterstützung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld neu anbringen, stellte Strafanzeige. Der Schock sitzt tief, das wird auch auf der Kundgebung deutlich. Verschiedene Gruppierungen melden sich zu Wort. Unter ihnen ist auch Sonja Bernitt vom Bündnis „Kein Schritt nach rechts“. Sie schildert ihre Perspektive auf den Umgang mit queerer Geschichte und Sichtbarkeit: „Ich bin queer. Ich bin trans. Ich wurde 49 Jahre nach dem Tod von Magnus Hirschfeld geboren und wuchs nicht weit von Heidelberg auf. Einen Großteil meines Lebens wusste ich nicht, wer Magnus Hirschfeld war. Aber ich hätte es gerne gewusst. Ich hätte es wissen müssen!“
Vielen sagt der Name Magnus Hirschfeld wenig bis nichts. Das liegt unter anderem daran, dass queere Geschichte oft vergessen oder verschwiegen wird. Magnus Hirschfeld war Wissenschaftler, er war Aktivist, er war homosexuell. Auch in Heidelberg studierte Hirschfeld für einige Semester Medizin und gründete eine jüdische Studentenverbindung. Der Begründer des international ersten Instituts für Sexualwissenschaften kämp-*fte für die Entkriminalisierung queerer Menschen. Er und seine Arbeit waren bereits früh Ziel nationalsozialistischer Hetzkampagnen.
Sozialbürgermeisterin Stefanie Jansen erinnert daran, dass Hirschfeld für Respekt, Freiheit und Vielfalt stand und dass besonders diese Werte weiterhin verteidigt werden müssten. Jen Bihr vom Queerfeministischen Kollektiv verweist auf vermehrte Angriffe auf queere Veranstaltungen in Heidelberg: „Es kann nicht sein, dass wir uns wegen solchen Taten verstecken und aus der Stadtgesellschaft verschwinden sollen. Deswegen fordern wir jetzt erst recht Sichtbarkeit für unsere Geschichte und unsere Kultur.“ „Wir sorgen uns um den diesjährigen Pride March“, ergänzt Jen.
Diese Sorge ist nicht unberechtigt. Am 31. Mai, dieser Artikel steht bereits kurz vor Druck, erreicht uns die Nachricht zu Übergriffen gegen eine FLINTA*-Demo in der Heidelberger Altstadt. Betroffene berichten von Beleidungen, Bedrängungen und davon, dass sie mit Gläsern beworfen worden seien. Auch Jen war Teil des Organisationsteams. Die Demonstrierenden waren ohne Polizeischutz unterwegs, es heißt, der Polizei sei die Gruppe zu klein gewesen. Auch in vergangenen Jahren kam es zu Vorfällen.
Nicht der erste Fall
Bereits im letzten Jahr berichtete der ruprecht über Vandalismus gegen ein öffentliches Symbol von Queerness. Damals ging es um eine Lesben- und eine Regenbogenflagge, dieses Mal ist es eine Plakette. Den Artikel „Hinter dem Regenbogen“ vom 1. Juli 2024 ist auf unserer Website nachzulesen. Fest steht: Bei beiden Vorfällen handelt es sich um eine queerfeindliche Straftat. Doch was fällt eigentlich darunter?
Philipp Wehage von der Queer-Beratung, einem Angebot von der Unit for Family, Diversity & Equality (Unify) an der Universität Heidelberg empfiehlt uns während der Recherche den Beitrag „Queerfeindliche Hasskriminalität in Deutschland“, welcher 2023 in einer Schriftenreihe an der Universität Jena veröffentlicht wurde. In ihm definiert Dr. Sarah Ponti Queerfeindliche Hasskriminalität als „politisch motivierte Straftaten, die sich gegen eine Person wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität richten […]“. Die Definition bietet eine wichtige Grundlage um Statistiken zu dem Thema zu verstehen. Das Bundesinnenministerium veröffentlicht in einer jährlichen Statistik zu politisch motivierter Kriminalität auch Zahlen zu queerfeindlichen Straftaten, die bis vor wenigen Jahren unter dem Begriff „sexuelle Orientierung“ zusammengefasst wur-*den. 2020 wurde „Geschlecht/sexuelle Identität“ hinzugefügt in der Absicht, Diskriminierung gegen trans-, inter- und nicht-binäre Meschen (TIN-Personen) gesondert zu dokumentieren. Da diese Kategorie auf Grund von Fragen wie „Warum heißt sie ,sexuelle Identität’, wenn sie sich genau davon abgrenzen will?“ mehr Verwirrung schuf, als sie aus dem Weg räumte, wurde sie zum 1. Februar 2022 weiter unterteilt. Nun wird mit den Bezeichnungen „frauenfeindlich“, „männerfeind-*lich“ und „geschlechtsbezogene Diversität“ gearbeitet. Letzteres fasst alle Taten zusammen, die sich gegen TIN-Personen richten.
Was sagt die Polizei?
Auf unsere Anfrage zu Straftaten gegen LSBTIQ*-Personen in Heidelberg in den letzten fünf Jahren übermittelte uns das Polizeipräsidium Mannheim eine Statistik zu „sexueller Orientierung“ und „geschlechterbezogener Diversität“. Allerdings mit der Anmerkung, dass queerfeindliche Straftaten erst „seit 2023 einheitlich erfasst werden“. Die Zahlen in Heidelberg legen einen Anstieg jedoch nahe: 2020 eine, 2021 keine, 2022 sieben, 2023 acht, 2024 achtzehn Vorfälle. Doch wie hoch ist die Dunkelziffer?
PLUS e.V. ist ein Verein, der seit 1999 psychosoziale Beratung für LGBTIQ*-Personen im Rhein-Neckar-Kreis anbietet. In einer von ihm durchgeführten Online-Befragung von 2018 gaben 27 Prozent der 416 queeren Teilnehmenden an, in Heidelberg zu leben. 214 Personen beantworteten Fragen zu queerfeindlichen Vorfällen im Jahr davor. 120 von ihnen berichteten von konkreten Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen. Zudem wurde erhoben, ob Betroffene diese *Vorfälle der Polizei meldeten: Bei Bedrohungen lag die Anzeigerate mit 48 Prozent am höchsten, bei sexuellen Übergriffen mit nur sieben *Prozent am niedrigsten. Das Bundeskriminalamt schreibt, dass die Bereitschaft, Anzeige zu stellen, unter queeren Menschen in Deutschland zunehme. Dies deckt sich mit Umfragen der European Union Agency for Fundamental Rights zum Thema LGBTIQ* Equality.
Ein weiterer Ansatz, zum Erfassen queerfeindlicher Straftaten ist die Sensibilisierung und Aufklärung
zuständiger Beamt:innen. Denn sie sind es, die entscheiden, ob Straftaten überhaupt als Hasskriminalität eingestuft werden.
Die statistische Erfassung von queerfeindlichen Straftaten ist ein wichtiger Schritt, um Sicherheit *und Teilhabe von LGBTIQ* Menschen zu gewährleisten. Ponti schreibt: „Empirische Daten über Ausmaß, Erscheinungsformen und Hintergründe queerfeindlicher Kriminalität sind für zielgenaue Konzepte zu Prävention, Aus- und Fortbildung von Polizei und Justiz sowie zur ausreichenden Unterstützung von Opferhilfe-Einrichtungen unerlässlich.“
Hilft die Uni?
Unify unterstütze Universitätsmitglieder durch Workshops wie das By-stander-Training, erzählt Wehage. Weiter meint er, die Arbeit würde geschätzt werden. Er ist zuversichtlich, dass solche Angebote in Zukunft weiteren Ausbau erhalten. Auch das Amt für Chancengleichheit erklärt in einem schriftlichen Interview mit dem ruprecht seinen Ansatz, um für queere Sichtbarkeit und Sicherheit zu sorgen: Man strebe die Strafverfolgung queerfeindlicher Taten in Kooperation mit Community und Polizei, sowie Sichtbarkeit und Präsenz queerer Themen, und präventive Bildungsarbeit an, um lang-*fristig Haltungen zu verändern.
Zugleich hat die CDU Ende Mai im Rahmen der Haushaltskrise („Heidelberger Pleite“, ruprecht 214) einen Antrag im Gemeinderat gestellt, das Budget des Amtes für Chancengleichheit um 500.000 Euro zu kürzen. Bereits jetzt hat das Amt für Chancengleichheit den kleinsten Etat.
Rainbow City?
Der Vorschlag wirft die Frage auf, wie ernst es Heidelberg mit seinem Engagement wirklich meint, besonders angesichts des eigenen Selbstverständnis als Rainbow City. Die Stadt zählt nun bereits seit 2020 offiziell zum Rainbow City Network (RCN), einem Netzwerk, das seine Aufgabe im Schaffen einer Plattform für offenen und inklusiven Austausch und soziale Inklusion sieht. Im März 2025 feierte Heidelberg das fünfjährige Jubiläum als Rainbow City. „Als Rainbow City tragen wir Verantwortung: Vielfalt soll in Heidelberg nicht nur möglich, sondern selbstverständlich gelebt und aktiv geschützt werden“, so das Amt für Chancengleichheit. Was heißt das in der Praxis? Laut dem Amt für Chancengleichheit gebe es bereits mehrere Maßnahmen zur Förderung von LGBTIQ*-Menschen. Zu diesen zähle der „Runde Tisch sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“, ebenso wie der Aktionsplan „Offen für Vielfalt und Chancengleichheit“. Mit dem Angebot „Queer Youth“ werde auch ein Fokus auf Jugendliche gelegt.
Als die Kundgebung in der Sandgasse endet, bringt Ilona Scheidle von der Lesbisch-Schwulen Geschichtswerkstatt sechs Schilder mit Namen historisch-queerer Persönlichkeiten an. So entsteht eine „Regenbogen-Sandgasse“ als Beitrag zur lokalen Erinnerungskultur.
Heidelberg hat queere Initiativen und Angebote, es gibt zuständige Stellen. Und diese müssen nicht neu erfunden, sondern politisch gestärkt werden. Gerechtigkeit braucht Erinnerung. Und Erinnerung braucht Platz im Stadtbild, in der Politik, im Alltag. Nur dann wird aus Geschichte eine Zukunft, die niemanden ausschließt.
Von Laetitia Klein, Leah Bohle und Emma Helene Neumann
Laetitia Klein
...studiert Biowissenschaften und schreibt … nichts. Er layoutet und illustriert seit 2023 für den ruprecht.