Die muslimische Welt ist vielfältig. Trotzdem wird die historische und politische Aufspaltung oft vereinfacht dargestellt. Ein Blick auf die verschiedenen Glaubensrichtungen
Wir schreiben das Jahr 632. Mohammed, Stifter des Islams und von den Muslim:innen als der letzte Prophet Gottes geehrt, liegt im Sterben. Über die Frage seiner Nachfolge wird in den kommenden Jahren ein Konflikt ausbrechen, der die islamische Welt unwiderruflich prägen soll.
Zügig bildeten sich zwei Lager mit einer klaren Vorstellung, wie der Kalif, arabisch für „Nachfolger“, bestimmt werden sollte. Das eine Lager war der Überzeugung, dass die Nachfolge Mohammeds nur durch einen Blutsverwandten angetreten werden könne. Da er keine Söhne hinterließ, fiel die Entscheidung auf seinen Cousin Ali. Diese Gefolgschaft bildete die Schīat Alī, arabisch für „Partei Alis“, von der sich der Begriff „Schiiten“ ableitet. Das Gegenlager widersprach diesem Vorgehen. Es würde reichen, wenn die Nachfolge ein Stammesmitglied antrete, dass die „Sunna“, also die Bräuche und Traditionen Mohammeds, fortführe. Aus dieser Bewegung gingen die „Sunniten“ hervor.
Ein wichtiger Schritt im Prozess der Aufspaltung war die Schlacht von Kerbela, in der sich die sunnitische Seite durchsetzen konnte. In den kommenden Jahrhunderten vollzog sich die Ausformung beider Bewegungen. Während im Sunnitentum fünfmal täglich gebetet wird, ist dies im schiitischen Islam dreimal der Fall. Es werden zum Teil verschiedene Gebetstexte rezitiert. Zudem enthält der schiitische Gebetsruf den Ausspruch „Ich bezeuge, dass Ali Freund Gottes ist“.
Dr. Benjamin Weineck, der am Institut für Islamwissenschaft in Heidelberg lehrt und forscht, er-klärt, theologische Unterschiede würden sich in Grenzen halten und unterstreicht den politischen Charakter der Aufspaltung. „Ein wesentlicher Unterschied besteht mit Blick auf die Rolle der Imame, arabisch für Anführer. Für Sunniten erfüllt der Imam die Rolle des Gelehrten der Moscheegemeinde und des Vorbeters beim gemeinsamen Gebet. Im Schiitentum hingegen werden Ali und seine direkten Nachfahren als Imame bezeichnet, die als politische und religiöse Anführer der Schiiten gedient haben“.
Unstimmigkeiten über die rechtmäßige Abfolge der Imame führten zu Abspaltungen innerhalb des schiitischen Islams. Daraus gingen die Zaiditen, Ismailiten und schließlich die Zwölfer-Schia hervor. Letztere stellt die mit Abstand größte Gruppe im Schiitentum dar und sieht die Vollendung ihrer Glaubenslehre in der Rückkehr eines verschollenen zwölften Imams. Sunniten sind ähnlich heterogen. Je nach historisch gewachsener Lesart der religiösen Gesetze und Texte werden die Rechtsschulen der Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten unterschieden.
Der in Saudi-Arabien als Staatsreligion praktizierte Wahhabismus ist eine erzkonservative Auslegung von Koran und Sunna, der eng verwoben ist mit der Geschichte der hanbalitischen Rechtsschule und der saudischen Monarchie. Ein ähnlich politisierter Auswuchs findet sich im Schiitentum mit der im Iran praktizierten Welāyat-e faqīh, persisch für „Herrschaft des Rechtsgelehrten“. Sie stützt sich spirituell auf die Zwölfer-Schia und ist zurückzuführen auf die Lehren des Āyatollāhs Khomeini, der die Islamische Revolution 1979 und damit die Überführung des Irans von einer Monarchie in die heutige Islamische Republik anführte. Dieser Vorgang wurde von Saudi-Arabien mit Argwohn beobachtet. Ein Ende der eigenen Monarchie und des Führungsanspruchs im mehrheitlich sunnitischen Nahen und Mittleren Osten werden durch die iranische Politik des Revolutionsexports gefürchtet.
In Anbetracht der historisch gewachsenen Heterogenität innerhalb des Sunniten- und Schiitentums ist Benjamin Weineck zufolge das vereinfachte Bild eines zweigeteilten Islams abzulehnen. Häufig wird ein vermeintlich religiöser Antagonismus als Erklärung für Konflikte im Nahen und Mittleren Osten herangezogen. „Dies dient wie im Fall von Saudi-Arabien und Iran vornehmlich als Steilvorlage, um hegemoniale Ansprüche anzumelden und Einflusssphären auszubauen. Es wird eine Dichotomie beschworen, die vielmehr politischer Natur ist. Zudem können wir eine Auflösung solch vermeintlicher Bruchlinien und stattdessen die Bildung von Allianzen entlang ideologischer Interessen beobachten. Ein Beispiel hierfür ist der Schulterschluss zwischen der sunnitischen Hamas in Gaza und dem sogenannten schiitischen Halbmond, bestehend aus den Huthi-Rebellen im Jemen, dem Iran, Irak, dem inzwischen gestürzten Assad-Regime und der libanesischen Hisbollah.“
In ihrem jeweiligen Konflikt mit Israel spiele der religiöse Unterschied dieser Akteure keine Rolle, so Weineck. Der Islamwissenschaftler verdeutlicht: „Vereinfachende Erklärungsansätze sind verlockend, werden jedoch der geopolitischen, historischen und religiösen Komplexität der islamischen Welt nicht ansatzweise gerecht.“
Von Aylin vom Mond
...studiert Biowissenschaften und schreibt … nichts. Er layoutet und illustriert seit 2023 für den ruprecht.