Warum Diskussion oft da endet, wo sie anfangen sollte.Über Meinungsfetischist:innen und das schöne Gefühl, Debatten zu gewinnen.
Wir verstehen uns als die kritischen Denker:innen der Zukunft, hinterfragen altmodische Narrative, fordern Veränderung, andere Staatssysteme, einen neuen Markt. Revolution und Reform sind en vogue. Aber sind wir wirklich kritisch? Oder lediglich gegen alles, was moralisch aus der Mode gekommen ist – vor allem, wenn es von „alten weißen Männern“ stammt?
Der Philosophieprofessor David Lauer von der Universität Kiel definiert kritisches Denken so: „Kritik sollte informiert sein, sie sollte sich selbst rechtfertigen können, sie muss grundsätzlich offen sein für Selbstkritik.“ Während Kritik zum Beispiel an der „Gender Pay Gap“ sicher informiert und auch gerechtfertigt ist: Wie ist es mit der Offenheit für Selbstkritik? Schauen wir auf die Diskussionskultur – vor allem im Privaten. So findet doch häufig eine Verweigerung des Dialogs statt, sobald eine gegensätzliche Meinung zur eigenen geäußert wird. Oder er wird zur emotionalen Meinungskollision ohne echtes Gespräch. Lauer spricht vom „Fetischismus der eigenen Meinung“. Kritisch beäugt wird jener, der nicht ins Gelächter über den neusten Merz-Witz einstimmt. Vielleicht denkst du gerade sogar: „Die wählt bestimmt CDU, ich lese lieber etwas anderes.“ Und so steckst du mich in deine Kategorie „nicht meine Meinung – nicht meine Zeit wert“. Das ist respektlos von dir, findest du nicht?
Der unbequeme Dialog stirbt also aus. Dabei ist er Grundvoraussetzung einer funktionierenden De- mokratie. Während wir uns über ein AfD-Parteiverbot die Köpfe einschlagen, übersehen wir den wahren Feind der Demokratie: mangelndes Zuhören, Verständnis, Vernunft und Toleranz gegenüber Kritik.
Dabei sagte Margot Friedländer: „Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig.”
Wieso machen wir also so weiter? Vielleicht liegt das Problem darin, dass wir unsere Meinung mit unserer Identität gleichsetzen. Kritik an meiner Meinung wird zu Kritik an mir. Das ist unangenehm, peinlich – vielleicht sogar verletzend. Kein Wunder also, dass viele sich gegen den Dialog sträuben. Es ist menschlich.
Wer ihn jedoch wiederbeleben möchte, muss seine Komfortzone verlassen. Das erfordert Mühe, Energie und auch ein bisschen Mut. Doch wer Demokratie fordert und gehört werden will, muss auch bereit sein zuzuhören – selbst, wenn das Gegenüber etwas sagt, das einem missfällt. Wir müssen es wertschätzen, ihm mit Respekt begegnen und Raum geben, sich frei zu äußern – ohne Wertung. Das öffnet Herzen und baut Brücken. Wenn unsere Argumente auf fruchtbareren Boden treffen, wächst gegenseitiges Vertrauen, selbst nach langer Dürre. Lasst uns anfangen unser Gegenüber wieder als Menschen wahrzunehmen, der auch Probleme, Träume und Vernunft besitzt. Denn das ist es, was uns verbindet: Menschsein.
Ein Kommentar von Carmen Latus