…oder demonstrierst du schon? Fünf Jahre nach dem Mordanschlag in Hanau und der Black Lives Matter-Protestwelle blickt unsere Autorin kritisch auf studentischen Aktivismus
Kommentar
Etwa fünf Jahre sind seit den weltweiten Black-Lives-Matter-Protesten und der Debatte über Rassismus im Zuge des Polizeimords an George Floyd in den USA vergangen. Dieser Mord hat auch in Deutschland etwas ausgelöst, was weder das Blutvergießen von Hanau – nur drei Monate zuvor – noch die NSU-Morde oder die Brandanschläge nach der Wiedervereinigung bewirken konnten. Wir haben über Rassismus gesprochen. Sicherlich spielte Mitgefühl mit rein, aber auch ein klares Bild davon, an wessen Seite man gesehen werden wollte und welchen Eindruck dies bei bestimmten anderen gemacht hat. Letzteres hat geradezu den Charakter einer allgemeingültigen Regel, die wir im Kleinen bei unseren Mitmenschen beobachten können und die Missstände im Großen offenlegt. Wie etwa bei meiner Kommilitonin, die eine Menora auf ihre Fensterbank stellt, um den Eindruck zu erwecken, sie sei eine Jüdin, weil sie es schick findet, mit Juden und dem Judentum in Verbindung gebracht zu werden. Die Autorin Deborah Feldman nennt dieses Verhalten treffenderweise „Judenfetisch“. Schlussendlich ist die Sache mit dem Fetisch der Knackpunkt. Mit wem wir uns solidarisieren, ist für einige mehr und für andere weniger davon abhängig, mit wem man gerne gesehen oder in Verbindung gebracht werden möchte. Das führt dazu, dass Menschen sich ihre „Lieblingsopfer“ rauspicken und meistens dieselben Gruppen hinten runterfallen. Also diejenigen, bei denen es nicht schick, cool oder ansehnlich ist, sich einzusetzen.
Ich habe noch nie mitbekommen, wie sich selbsternannte Verfechter:innen für jüdisches Leben mit derselben Hingabe und Aufopferung für das Holocaust-Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma eingesetzt haben. Ich habe auch nicht mitbekommen, dass meine hippen Kommiliton:innen Haltung zeigen wie auf den BLM-Protesten, wenn andere sich rassistisch über Syrer, Afghanen oder Iraner äußern. Wobei… In deren Wahrnehmung gibt es keine Syrer, Afghanen oder Iraner. Sie laufen alle unter dem Label „Türken“. Wenn das nicht Rassismus ist, was ist es dann? Satire? Was eigentlich gemeint ist, wenn pauschal von „Türken“ oder „Südländern“ gesprochen wird: Heterogene Gruppen von Menschen, die „fremd genug“ aussehen, um nicht dazuzugehören, aber auch nicht Schwarz oder asiatisch sind, sodass sie nicht unter dem Label „von Rassismus betroffen“ laufen. Sie fallen durch das berühmt berüchtigte Raster. Es scheint, als gäbe es kein Unrechtbewusstsein für sie. Sie finden kaum Berücksichtigung in der Mainstreamdebatte über Rassismus. Grund hierfür: Wir haben eine verengte Definition davon, wie jemand aussehen muss, um von Rassismus betroffen zu sein. Diese Definition schließt Menschen, die unter dem Label „südländisch“ laufen, ganz klar aus.
Wir haben eine verengte Definition davon, wie jemand aussehen muss, um von Rassismus betroffen zu sein
Ich erwarte von niemandem, alle Gruppen immer gleichermaßen zu berücksichtigen. Das ist gar nicht möglich. Es gibt aber einen Unterschied zwischen denen, die Rassismus der Sache wegen verurteilen und denen, die es ihrer „Lieblingsgruppe“ wegen tun. Das Problem letzterer ist die Annahme, dass Solidarität moralisch sein muss. Genau das macht die Debatte über Rassismus besonders anstrengend. Moral ist wertend, hierarchisch, vorwurfsvoll, selektiv, anmaßend und selbstgerecht. Also im Grunde nichts, was wir gebrauchen können. Moral unterstellt Vorsatz. Rassismus bedarf keinerlei Vorsatz und das ist zentral.
Es gibt einen Unterschied zwischen „Rassistisch-sein“ und „Rassist-sein“. Jede:r Rassist:in ist rassistisch. Aber nicht jede Person, die rassistisch ist, ist auch ein:e Rassist:in. Rassismus ist ein System zur Rechtfertigung von Benachteiligung, Demütigung und Gewalt. Wir sind alle in diesem System sozialisiert, haben es von Kindheitstagen an eingeatmet und reproduzieren es. „Rassistisch-sein“ ist die logische Folge. Es nicht zu sein, ist nicht möglich. Ich bin rassistisch, weil ich in einem rassistischen System sozialisiert worden bin. Ich bin kein Stück weniger rassistisch als du. Du kannst gerne auf mich losgehen und mir Vorwürfe machen. Nur zu! Und wenn wir damit fertig sind, kommen wir vielleicht dazu, ein offenes Gespräch der Sache wegen zu führen – jenseits von Moral, Coolness und Ansehnlichkeit.
Von Aylin vom Mond
…studiert Germanistik im Kulturvergleich und Anglistik im Master. Sie schreibt seit dem Sommersemester 2024 für den ruprecht. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, singt sie zu Taylor Swift mit, während sie Kekse backt.