Zum Wintersemester hat Silke Mende ihre Stelle als Professorin für Zeitgeschichte angetreten. Mit dem ruprecht spricht sie über ihre Ziele und Forschungsinteressen
Am Historischen Seminar hat Silke Mende die Professur für Zeitgeschichte übernommen. In Tübingen promovierte sie mit einer Arbeit zur Geschichte der Gründungsgrünen. Ihr Amtsantritt markiert einen Neubeginn, nachdem ihr Vorgänger, Edgar Wolfrum die Universität wegen Plagiatsfällen verlassen musste.
Sie sind seit diesem Semester die neue Professorin für Zeitgeschichte. Was sind Ihre ersten Eindrücke vom Seminar und den Studierenden?
Die Eindrücke sind sehr gut! Sowohl mein Team als auch ich fühlen uns von Beginn an von allen herzlich aufgenommen. Auch die Lehrveranstaltungen mit engagierten und sehr interessierten Studierenden machen viel Freude. Zudem ist Heidelberg sehr international und eine klassische Unistadt im besten Sinne. Außerdem habe ich trotz bereits einiger akademischer Stationen an unterschiedlichen Orten bisher noch keine bessere Mensa als die im Marstall kennengelernt…
Was hat Sie an der Professur hier besonders gereizt, nachdem Sie bereits an der Universität Münster tätig waren?
Die beiden Universitäten und Historischen Seminare haben nach meinem ersten Eindruck durchaus viele Ähnlichkeiten. An Heidelberg und dem Historischen Seminar hat mich u.a. der enge Bezug zu Frankreich gereizt. Von hier aus gibt es nicht nur eine schnelle Zugverbindung nach Frankreich (vor allem ab dem Moment, in dem man das Netz der Deutschen Bahn verlässt…), sondern auch hervorragende Austauschformate, wie einen deutsch-französischen Master in Geschichte und ein gemeinsames Doktorand*innenprogramm mit der EHESS in Paris. Die Nähe zu Frankreich spürt man zudem auch in der Stadt auf Schritt und Tritt.
Viele Studierende wissen gar nicht genau, wie man Professorin wird. Können Sie kurz erklären, wie so ein Berufungsverfahren abläuft, und wie Sie ihres erlebt haben?
Das kann je nach Ort, Stelle und auch Disziplin jeweils ein wenig unterschiedlich sein, beinhaltet aber in jedem Fall verschiedene Stufen und Phasen. Am Ende stehen normalerweise ein Probevortrag sowie unterschiedliche weitere Formate, etwa eine Lehrprobe, Gespräche mit Studierenden und Kolleg*innen, etc.
Welche Voraussetzungen oder Stationen muss man in der Regel durchlaufen, um auf eine Professur berufen zu werden?
Hier gibt es natürlich auch Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, Disziplinen und akademischen Kulturen, zudem hängt es von der ausgeschriebenen Stelle ab. Wenn man aber von einer regulären Geschichtsprofessur an einer deutschen Universität ausgeht, dann gehört nach dem Studium in jedem Fall eine Dissertation dazu, hinzu kommen weitere Leistungen, etwa eine Habilitation, ein zweites Buch oder äquivalente Leistungen. Anders als in manchen anderen Ländern ist es in Deutschland außerdem üblich, sich auf zwei unterschiedlichen thematischen Feldern zu qualifizieren, so dass sich die Themen des ersten und zweiten Buches normalerweise deutlich voneinander unterscheiden. Das ist nicht per se besser oder schlechter, aber eben anders.
Welche Themen stehen im Zentrum Ihrer Forschung?
Mein Schwerpunkt ist die Zeitgeschichte nach 1945, darüber hinaus die Geschichte Europas im „langen 20. Jahrhundert“, also dem Zeitraum vom späten 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Besonders interessiert mich das, was man gegenwartsnahe Zeitgeschichte nennen könnte: Wie nah kommt man mit zeithistorischen Methoden an unsere eigene Gegenwart heran? Und wie hängen aktuell diskutierte Themen und Problemlagen mit der Vorgeschichte unserer Gegenwart, etwa der Geschichte der 1970er oder 1990er Jahre zusammen? Neben der deutschen und westeuropäischen Geschichte habe ich außerdem einen Schwerpunkt in der französischen Geschichte und interessiere mich insbesondere für deren (post-)koloniale Dimensionen.
Hat sich Ihr Forschungsschwerpunkt im Laufe der Jahre verändert, oder gibt es jetzt neue Fragestellungen, die Sie hier besonders verfolgen möchten?
Zum einen bleiben bestimmte Themen, die ich in meiner bisherigen akademischen Laufbahn eingehend bearbeitet habe. Zum anderen habe ich aber natürlich auch großes Interesse, davon ausgehend neue Forschungsfelder zu erschließen bzw. thematische Schwerpunkte weiterzuentwickeln. Aktuell interessiert mich insbesondere die Demokratiegeschichte des zeitgenössischen Europas. Das betrifft zum einen Fragen von Parlamentarismus und Repräsentation im deutschen und europäischen Kontext, zum anderen die Geschichte von Umwelt, sozialen Bewegungen und Protest. Ein weiteres Anliegen ist mir, ausgehend von Frankreich, die Geschichte europäischer Imperien und ihrer Nachwirkungen.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte oder neuen Themen bringen Sie in die Lehre ein?
Forschung und Lehre sehe ich eng aufeinander bezogen, auch wenn das Themenspektrum in der Lehre natürlich breiter sein muss. Dennoch macht es sehr viel Spaß, Themen, an denen man in der Forschung herumdenkt, in der Lehre zu diskutieren und zu „testen“ sowie davon ausgehend das Forschungskonzept abermals nachzuschärfen oder auch anzupassen. Insofern spielen in der Lehre aktuell vor allem Themen der gegenwartsnahen Zeitgeschichte sowie die Frage nach den globalen Verflechtungen deutscher und westeuropäischer Geschichte eine große Rolle, zudem Fragen von Demokratie und deren (historischen) Bedrohungen.
Planen Sie neue Seminare oder Formate, die sich von bisherigen unterscheiden (z. B. Projektseminare, Praxisbezug, digitale Methoden)?
Dafür muss ich die bestehenden und eingespielten Formate natürlich erst einmal kennenlernen. Aber es gibt sicherlich viele Themen der Zeitgeschichte, die sich auch mit einem spezifischen Heidelberger Bezug angehen lassen, ich denke zum Beispiel an die Protestgeschichte der Bundesrepublik. Zudem könnte man auch an gemeinsame Lehrformate mit Kolleg*innen an anderen Universitäten denken: So könnte eine erste Phase in separaten Seminaren an den jeweiligen Universitäten erfolgen, bevor sich eine zweite kompakte Phase anschließt, in der die Ergebnisse zusammengetragen und ortsübergreifend gemeinsam diskutiert werden. Aber das muss man dann in Ruhe sehen…
Wie wichtig ist Ihnen interdisziplinäre Arbeit in der Geschichtswissenschaft?
Aus meiner Sicht ist diese sehr wichtig. Gerade die Zeitgeschichte als gegenwartsnahe Wissenschaft kommt nicht ohne den Blick auf und die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen aus. Hinzu kommt, dass viele der Themen, die wir nun als Zeithistoriker*innen behandeln, zeitgenössisch häufig bereits von anderen gegenwartsorientierten Wissenschaften – etwa der Soziologie oder den Politikwissenschaften – untersucht worden sind. Deren Erkenntnisse sind nicht nur wichtig für unsere Arbeit, sondern sie können zugleich den Blick dafür schärfen, wie man nun noch einmal aus einer spezifisch zeithistorischen Perspektive auf diese Themen blicken kann.
Woran arbeiten Sie zurzeit konkret – gibt es laufende oder geplante Forschungsprojekte?
Wie oben bereits erwähnt, ist mir aktuell die Zeitgeschichte der Demokratie ein besonderes Anliegen. Hier läuft beispielsweise ein Forschungsprojekt gemeinsam mit Kolleg*innen aus Eichstätt und Hamburg, das sich mit „demokratischer Verfasstheit“ in Europa beschäftigt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach einer Verflechtung europäischer und nationaler Demokratiegeschichten von den 1970er bis zu den 1990er Jahren.
Welche Ziele haben Sie sich für Ihre ersten Jahre hier gesteckt – sowohl in Forschung als auch in der Lehre?
Jenseits von Forschung und Lehre: So oft wie möglich in die Marstall-Mensa gehen, bevor diese temporär schließt… Nein, im Ernst: Ich denke, dass dazu bereits vieles in meinen Antworten zu den anderen Fragen deutlich geworden ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, nutze ich stattdessen die Gelegenheit, mich bei Ihnen für das Interview und Ihre Fragen zu bedanken!
Das Gespräch führte Laetitia Klein
...studiert molekulare Biotechnologie und ist seit dem Sommersemester 2023 beim ruprecht. Meistens schreibt sie wissenschaftliche Artikel oder über das studentische Leben. Seit November 2023 kümmert sie sich außerdem um die Website und den Instagram-Kanal des ruprecht.








