Caroline Wahl kam aus dem Nichts und stieg im Jahr 2023 direkt ganz oben auf der Bestseller-Liste ein. Ein tieferer Blick auf ihr Debüt „22 Bahnen“
Rezension
Caroline Wahl hat Biss. Falsche Bescheidenheit gehört nicht in ihr Repertoire. Das kann sie sich auch leisten, denn sie hat einiges vorzuweisen. Ihr Debütroman „22 Bahnen“ brachte ihr großen Erfolg und wurde zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023 gekürt.
Die 29-Jährige wuchs in der Nähe von Heidelberg auf, studierte Germanistik und deutsche Literatur in Tübingen und Berlin. Ihr erstes Werk schrieb sie, während sie beim Diogenes Verlag in der Schweiz arbeitete. In verschiedenen Interviews erzählt sie, wie unglücklich sie dabei war. Sie habe dort viele enttäuschende Manuskripte gelesen und habe sich zugetraut, es besser machen zu können – und gemessen an ihrem Erfolg hat sie das definitiv geschafft.
In Interviews und auf Instagram fällt auf: Wahl ist stolz auf ihre Erfolge, macht sich nicht klein. Sie spricht von ihrem Ehrgeiz und dem Drang, ganz oben mitzuspielen.
„22 Bahnen“ handelt von Tilda sowie ihrer jüngeren Schwester Ida, die sich mit ihrer alkoholkranken Mutter rumschlagen müssen. Nur unter Wasser kann Tilda durchatmen und so schwimmt sie täglich ihre 22 Bahnen. Eine Chance nach Berlin zu ziehen tut sich auf und Tilda ist gefangen zwischen Wut, Schuldgefühlen und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Zwischen all dem darf eine Liebesgeschichte auch nicht fehlen. Auftritt Viktor: Ein reicher, junger Mann, den sie beim Schwimmen kennenlernt und der in die Rolle des Beschützers tritt – natürlich auch inklusive tragischer Hintergrundgeschichte. Wahl beherrscht das Handwerk, eine dramaturgisch saubere Geschichte zu schreiben. Doch so mitreißend wie Tildas Leben ist, könnten die Konflikte etwas mehr Tiefe vertragen. Am Ende löst sich alles „einfach so” – oder eben auch nicht.
Die Charaktere wirken überzeichnet, die Kontraste zwischen ihnen überdeutlich inszeniert. Natürlich ist Viktor im Vergleich zu Tildas eher ärmlichen Leben unverhältnismäßig reich für sein Alter. Natürlich hat Tildas beste Freundin, im Gegensatz zu ihr selbst, die perfekteste, wohlhabende Bilderbuchfamilie. Natürlich ist Tilda übermäßig schlau und Überfliegerin in ihrem Mathematikstudium und wird nur durch die Alkoholsucht ihrer Mutter davon abgehalten, ihr wahres Potential zu entfalten.
Die Wortwahl zeugt von einer schnörkellosen Simplizität; wer nach Poesie sucht, ist hier an der falschen Adresse. Diese Einfachheit der Sprache rührt in manchen Szenen durch die Greifbarkeit des Alltäglichen, kontrastierend zur traumatischen Last, die Tilda immer mit sich trägt. Wahl schafft es, einen umgangssprachlichen Ton zu treffen, ohne krampfhaft hip und gewollt cool zu wirken. Dies wird viel an ihren Büchern gelobt, doch zeugt es, als junge Person in der Alltagssprache seiner Generation zu schreiben, von einer ausgereiften stilistischen Fähigkeit? Leicht lesen lässt sich der Roman dadurch aber allemal.
„22 Bahnen“ ist außerordentlich beliebt, wurde bereits 600.000 Mal verkauft und soll zur Schullektüre für die siebte bis zehnte Klasse werden. Die Filmrechte sind bereits verkauft und auch ein Theaterstück ist in Planung. Auf „Booktok”, der Ecke auf Tiktok für Leseratten, wurde es unzählige Male empfohlen. Doch ihr Debüt ist keine Geschichte, wie es sie noch nie zuvor gab oder nie wieder geben wird. Es ist das ideale Buch, um es an Weihnachten an ein Familienmitglied zu verschenken: Es trifft den Geschmack der meisten und viel auszusetzen gibt es nicht. Ein relativ sicherer Treffer. Doch für mehr reicht es auch nicht. Das Wort „nett“, mit all seinen (fehlenden) Facetten, bringt es auf den Punkt.
Direkt im Anschluss an „22 Bahnen“ schmiss sich Wahl in ihr nächstes Projekt, „Windstärke 17“, welches im Mai dieses Jahres erschien und ebenfalls zum Spiegel-Bestseller wurde.
Es handelt sich um eine Fortsetzung, diesmal mit der kleinen Schwester Ida als Protagonistin. Inzwischen ist diese eine junge Erwachsene geworden und flieht auf die Insel Rügen. Dort lernt sie den Kneipenbesitzer Knut und seine Frau kennen, die sie bei sich aufnehmen. Die Liebe zum Schwimmen sowie die Liebe an sich sind auch hier wieder zentrale Themen.
Der Einstieg ist hart. Tilda und Idas Mutter ist tot. Auf der Beerdigung war Ida nicht. Mit einem kaputten Koffer voller Schuldgefühle verlässt sie die Wohnung. Anstatt, wie geplant, zu Tilda nach Hamburg zu fahren, schaltet sie ihr Handy auf Flugmodus und will alles ausblenden. Sie ist die wildere der beiden Schwestern. Planlos, trotzig, selbstzerstörerisch. Mit einem Hang zum Gefährlichen schmeißt sie sich bei Sturm in die Wellen, krault aufs Meer raus, bis sie nicht mehr kann, rennt und brüllt und kommt schließlich bibbernd vor Kälte zurück.
Ihren jungen Schreibstil hat Caroline Wahl sich auch in diesem Roman beibehalten. Der Erfolg hat sie bestärkt und gefestigt. In einem Interview erzählt sie, sie habe erst nach dem Durchbruch ihres ersten Buchs eine Art Legitimation verspürt, zu schreiben. Sie will es allen zeigen. Dieses hohe Maß an Ehrgeiz, gepaart mit einem starken Selbstvertrauen, lässt Wahl auf manche arrogant wirken. Doch seien wir ehrlich: Wäre Wahl ein Mann, würde keiner mit der Wimper zucken, wenn sie sagt “Ich möchte eine der bekanntesten Autorinnen Deutschlands sein”.
Doch wenn Wahl eins nicht ist, dann ist das stoisch. Als sie es mit Windstärke 17 nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft hat, ließ sie ihre Wut ungefiltert bei ihren Follower:innen auf Instagram raus. Dieses Verhalten erinnert eher an ein trotziges Kind, das nicht verstehen will, dass andere nunmal besser sind.
Vor dieser Art von Ehrgeiz ziehe ich meinen Hut, doch ihre literarische Leistung lässt sie für mich einfach nicht zu den besten Autorinnen Deutschlands zählen.
Von Heinrike Gilles
...studiert molekulare Biotechnologie und ist seit dem Sommersemester 2023 beim ruprecht. Meistens schreibt sie wissenschaftliche Artikel oder über das studentische Leben. Seit November 2023 kümmert sie sich außerdem um die Website und den Instagram-Kanal des ruprecht.








