Sekten werben immer offensiver, auch an der Universität Heidelberg. Gerade Studierende sind ein beliebtes Ziel, deswegen schlagen Stura und Fakultäten der Uni Alarm. Wir werfen einen Blick darauf, wo spirituelle Begegnung aufhört und Manipulation beginnt
Das Handy vibriert und auf dem Display erscheint die Nachricht eines Bekannten: „Hey, hast du heute Lust auf einen Kochabend?“ Solche Einladungen hast du in letzter Zeit öfter von ihm bekommen. Er möchte dich ablenken, glaubst du, da du gerade eine schwierige Zeit durchmachst. Auch heute kommst du wieder gerne mit. Doch diesmal ist etwas anders. Die Gruppe ist größer, viele der Menschen sind dir unbekannt. Es ist ein Mix aus Personen, die, wie du, etwas verunsichert wirken und Leuten wie deinem Bekannten, die sich überschwänglich um euch kümmern. Auffällig ist, dass eine ältere Person extra aus einer anderen Stadt angereist ist und sich Zeit nimmt, mit allen „Neulingen“ unter vier Augen zu sprechen. Du fühlst dich unwohl und brichst den Kontakt mit dem Bekannten vorerst ab.
Der Anführer sitzt in Südkorea im Gefängnis
Solche und ähnliche Berichte häufen sich auf dem Heidelberger Universitätscampus. Es sind vor allem Gruppen aus dem evangelikalen Milieu, so zum Beispiel der Endzeit-Kult Shincheonji oder die Sekte „Jesus Morning Star“ (JMS), auch bekannt als Providence Church, die aktuell um sich greifen. Letztere Gruppierung wurde 1980 in Südkorea von Jung Myung Seok gegründet, der sich von seinen Anhänger:innen als Messias feiern lässt und inzwischen wegen der Vergewaltigung mehrerer Frauen aus seiner Gemeinde im Gefängnis sitzt. Nach der Inhaftierung hat sich die Gruppe vor allem nach Europa umorientiert, wo sie weniger bekannt ist. Nun wirbt sie auch an der Uni Heidelberg besonders engagiert um Neumitglieder. Inzwischen schlagen Studierende mit koreanischen Wurzeln, denen die Gefahr bekannt ist, und Fachschaften aus mehreren Heidelberger Fakultäten Alarm. Immer wieder wird Werbematerial dieser Gruppen in Instituten gefunden.
Auch die zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg, kurz Zebra, bestätigt dem ruprecht gegenüber, dass sie einen Anstieg an alternativen Weltanschauungsangeboten verzeichnen. Das Problem in Heidelberg sei bekannt. „Wir können feststellen, dass viele Menschen nach wie vor auf der Suche nach Sinn sind, sich mit Spiritualität beschäftigen, aber dies heute weniger institutionsgebunden stattfindet“, meint Beraterin Sahra Pohl. Der vielfältige Markt an spirituellen Angeboten sei per se nichts Schlechtes. Auch nicht-institutionalisierte Gruppen könnten Halt und Sicherheit geben. Problematisch werde es erst, wenn die Gruppe zu viel Kontrolle über das eigene Leben ausübe. Auf ihrer Website benennt Zebra dabei mehrere Warnzeichen, darunter Sozialkontrolle, Spendenzwang, Bildungsfeindlichkeit, Demokratiefeindlichkeit, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken, sowie Immunisierung gegen jegliche Kritik.
Dass es gewisse Gruppen speziell auf Studierende abgesehen haben, findet Frau Pohl wenig verwunderlich. „Wir haben immer mal wieder Anfragen, gerade in Bezug auf Erstsemester. Wenn man studiert, zieht man von zuhause aus, man kommt in einen neuen Kontext, man kommt auch in eine neue Stadt, man kennt niemanden. Man ist in einer sehr vulnerablen Situation, weil man sein soziales Netzwerk neu aufbauen muss. Und da gibt es tatsächlich einige Gruppierungen, die diese vulnerable Lebenssituation gezielt für sich zu nutzen wissen.“ Dass Sekten auch an Universitäten erfolgreich Mitglieder sammeln, verwundert sie nicht: „Das hängt nicht mit IQ zusammen“, betont die Expertin.
Wir sind alle an der ein oder anderen Stelle verführbar
Das Gemeine an den Angeboten ist jedoch, dass man anfangs gar nicht merkt, wo man sich gerade befindet. „Es ging erstmal gar nicht um Religion!“, berichten uns auch Betroffene. Stattdessen sind es Einladungen zu Spiele- und Kochabenden, privaten Bibelkreisen und kleineren Treffen, die als Flyer im Briefkasten landen, in der Stadt aushängen, in Uni-Gebäuden ausgelegt oder per Whatsapp und Instagram verschickt werden. Wenn man dann dort ist, so unsere Quellen, wirkt alles zunächst locker und ungezwungen. Auch Frau Pohl kennt dieses Schema: „Es ist sehr häufig so, dass Gruppierungen am Anfang Love-Bombing betreiben und es den Betroffenen sehr gemütlich machen. Es wird feines Essen angeboten, es gibt Kinoabende und so weiter.“ Erst wenn eine Bindung aufgebaut ist, wird die Schlinge enger gezogen. Dann erzählt die Gruppe von seltsamen Methoden, erwartet, dass man zeitintensive Aufgaben erfüllt, Geld spendet und seinen Lebensrhythmus dem der Gruppe anpasst. Doch wenn es alle um einen herum auch machen, verliert man schnell die Gefahr aus den Augen.
Genau deswegen ist es laut der Beratungsstelle Zebra das Allerwichtigste, den Kontakt mit Betroffenen zu halten. Wenn man merkt, dass sich Bekannte oder Freunde einer zweifelhaften Gruppe annähern, ist es vor allem in der Anfangsphase wichtig, die Betroffenen nicht völlig abrutschen zu lassen.
Ob man selbst betroffen ist, oder sich um eine andere Person sorgt: Eine Beratungsstelle zu kontaktieren ist nie verkehrt. Zebra bietet sowohl telefonische als auch persönliche Beratung und orientiert sich dabei sehr an den Bedürfnissen der Ratsuchenden.
Der Markt der Weltanschauungen wird zunehmend komplexer
Aber externe Angebote reichen nicht: Auch die Uni sollte sich einen Überblick über die Problematik verschaffen und gegen die Ausbreitung von gefährlichen weltanschaulichen Gruppierungen auf dem Campus aktiv werden. Eine Maßnahme könnte sein, auf der Uni-Website auf Beratungsangebote wie Zebra hinzuweisen. Aufklärungsveranstaltungen, gerade für Erstsemester als besonders vulnerable Gruppe, sind ebenfalls essentiell, um den Einfluss von Sekten zu schmälern und dafür zu sorgen, dass Studierende besser gegen die Manipulationsversuche solcher Gruppierungen gewappnet sind.
Wer Bescheid weiß, kann die Augen für sich und andere offen halten. In der Beratung geht es auch darum Betroffenen ihr Schamgefühl zu nehmen. Der Glaube, einem selbst könne so etwas nicht passieren, schützt nicht.
Wichtig ist, sich selbst klar zu machen: Der Markt der Weltanschauungen und Glaubensrichtungen wächst mit unseren zunehmend komplexer werdenden Lebensrealitäten. Auf der Suche nach Sinn und spiritueller Heimat ist es nur natürlich, auch mal falsch abzubiegen.
Von Pauline Ammon und Faustyna Gonka
...studiert Musikwissenschaften und Anglistik im Bachelor und leitet seit dem WiSe 25/26 das Ressort "Weltweit". Am liebsten schreibt sie über politisch und kulturell relevante Themen. Vor allem aber freut sie sich über jede Möglichkeit, spannende Dinge zu recherchieren.
...studiert derzeit Jura und fand im Frühjahr 2025 zum ruprecht. Leitet heute die Seiten 1–3 und begeistert sich für alle Geschichten, die mit „Eigentlich wollte ich nur kurz nachschauen…“ beginnen und dann in einem investigativen Kaninchenloch enden.
...illustriert und schreibt für den ruprecht und bildet die anderen 50% der Bildredaktions-Doppelspitze.










