Seit November 2024 demonstrieren Studierende in Serbien für ein Ende der Korruption. Inzwischen gibt es im ganzen Land Massenproteste gegen die Regierung. Zwei Studierende aus Belgrad berichten
Während wir über Zoom reden, sitzt Ana* in einem Seminarraum der Philologischen Fakultät in Belgrad. Die Tafel hinter ihr ist vollgeschrieben, obwohl dort schon lange kein Unterricht mehr stattfindet. Seit mittlerweile sechs Monaten protestieren Studierende in Serbien gegen die Korruption und das autokratische Regime von Präsident Aleksander Vučić. Aktuell sind alle Universitäten Serbiens von Studierenden besetzt. Auch Ana ist Teil der Blockade in ihrer Fakultät, sie und ihre Kommiliton:innen übernachten in provisorisch eingerichteten Schlafräumen. „Ganz normal zur Uni gehen, kann ich mir schon gar nicht mehr vorstellen“, sagt sie.
Am 1. November 2024 stürzte in Novi Sad, einer Großstadt im Norden Serbiens, ein Bahnhofsvordach ein. 15 Menschen kamen dabei ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Dabei war der Bahnhof gerade erst frisch renoviert worden. Der Vorfall steht sinnbildlich für die Korruption im Land und brachte für viele Menschen das Fass zum Überlaufen. Seitdem demonstrieren jeden Tag Tausende Menschen gegen das korrupte Regime des Präsidenten. „Wir wollen, dass das Gesetz immer und für alle gilt, vor allem, was die Korruption angeht“, fordert Ana. Für das Unglück in Novi Sad sei noch immer niemand zur Rechenschaft gezogen worden, es sei nur ein Beispiel von vielen. „Deshalb gehen wir jeden Tag auf die Straße“, erklärt sie.
„Ganz normal zur Uni gehen kann ich mir schon gar nicht mehr vorstellen.“
Sie sei Teil eines Kollektivs, das ist Ana immer wieder wichtig zu betonen. Die Proteste an den besetzten Universitäten werden jeweils von einem Plenum organisiert, in dem alle Beschlüsse basisdemokratisch gefasst werden. Alle Aussagen, die Ana trifft, wurden vorher im Plenum abgestimmt und spiegeln die Meinung aller Studierenden wider. Diese Protestform beruht auf dem Buch „Blokadna Kuharica“ (dt. Blockade-Kochbuch), das 2009 während einer Blockade von kroatischen Studierenden in Zagreb geschrieben wurde. Ein Kollektiv ist weniger angreifbar als Einzelpersonen. Bei den Protesten kam es wiederholt zu Gewalt gegen Protestierende. In Novi Sad haben Mitglieder der Regierungspartei Studierende mit Baseballschlägern angegriffen.
Auch Vuk kennt eine Person, die bei einem Protest von einem Auto erfasst und verletzt wurde. Er studiert in Belgrad. Macht es ihm Angst, wie gewaltbereit die Gegner:innen der Proteste sind? „Leider ist uns nach allem, was passiert ist, bewusst, dass wir immer in Gefahr sind, wenn wir auf die Straße gehen“, erklärt Vuk. Andererseits zeige der Unfall vor sechs Monaten eindeutig, dass sie sich nirgendwo richtig sicher fühlen können. Das sei auch das, was sie weiterhin auf die Straße bringe. Vuk ist sich sicher: „Wir kommen hier nur lebendig raus, wenn wir gemeinsam dagegen ankämpfen, auch wenn das bedeuten kann, dass wir unser Leben riskieren. Zum Glück haben wir heute viel mehr Unterstützende und sind nicht mehr alleine.“
Durch Streiks in Bildung und Justiz gerät Vučićs Regime immer mehr unter Druck. Am 15. März 2025 gingen bei der größten Demonstration in der Geschichte Serbiens um die 300.000 Menschen auf die Straße, schätzen unabhängige Organisationen. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Dabei kamen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammen, um die Studierenden zu unterstützen. Vuk zeigt sich bewegt: „Die Unterstützung seit Beginn der Blockade ist überwältigend. Wir sind nun eine Nation. Mein Herz ist voll Liebe und Respekt für alle Mitstreitende.“
Ivan Perkov ist Professor für Politische Soziologie an der Universität Zagreb. Die Proteste, sagt er, hätten Vučićs autokratisches und nationalistisches Regime tief erschüttert. Optimistisch ist er trotzdem nicht: „Die Protestierenden sind äußerst heterogen, haben wenig gemeinsam und bieten keine konkreten Lösungen an.“ Kurz gesagt: „Sie wissen, was sie nicht wollen, aber nicht, was sie wollen.“ Das Land sei ein totalitäres Regime ohne Pressefreiheit, in dem alle Macht bei einer Oligarchie liege. „Ein echter gesellschaftlicher Fortschritt wird noch viel Zeit brauchen. Erforderlich sind eine starke Opposition auf demokratisch-proeuropäischer Basis und anhaltender Druck – sowohl im Land selbst, als auch aus dem Ausland“, so Perkov.
Vuk und Ana blicken trotz allem hoffnungsvoll in die Zukunft. „Wir haben schon sehr viel erreicht, indem wir einen Zusammenhalt geschaffen haben, den es so vorher nicht gab. Ich fühle mich jetzt schon viel sicherer, weil ich weiß, dass ich nicht allein bin. Das gibt uns Hoffnung und Mut, weiterzukämpfen“, sagt Ana.
Von Luna Nebija und Pauline Ammon
*Name von der Redaktion geändert