Emma* sitzt auf einem der bequemen Sessel im MarstallCafé und schaut aus dem Fenster. In ihren Händen hält sie eine dampfende Tasse Tee. Ihr Blick schweift immer wieder ab, während sie die anderen Studierenden in der Schlange beobachtet. Bevor sie ihre Geschichte teilt, holt sie einmal tief Luft. Vor drei Jahren hat sie wiederholt sexuelle Gewalt innerhalb einer Beziehung erfahren. „Bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denken muss“, erklärt sie. Bei diesen Worten werden ihre Augen eine Spur glasiger. In Deutschland wird jede dritte Frau nach ihrem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt. Dabei werden nur sehr wenige Täter:innen tatsächlich angezeigt. Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung sind eher selten. Im Jahr 2016 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik 7.919 erfasste Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Die Aufklärungsquote dieser Fälle liegt seit Jahren bei knapp 80 Prozent. Aufgeklärt heißt dabei, dass ein:e Tatverdächtige:r ermittelt werden konnte und zwar unabhängig davon, ob diese:r von der Justiz schlussendlich angeklagt oder verurteilt wird. Unberücksichtigt bleibt die Dunkelziffer. „Das Dunkelfeld ist fünf bis fünfzehn mal höher“, bestätigt der Frauennotruf Heidelberg. Je enger das Verhältnis zwischen Opfer und Täter ist, sie sich beispielsweise während der Tat in einer Beziehung befinden, desto geringer sei laut Frauennotruf die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer die Tat anzeigt. Dabei seien diese Taten klar in der Überzahl. „In den allermeisten Fällen kennen die Opfer die Täter. Sie sind Familienmitglieder, Freunde und Bekannte“, so die Mitarbeiterin der Beratungsstelle. „Die Vorstellung vom Täter, der in der dunklen Gasse lauert, führt dazu, dass Opfern oft nicht geglaubt oder gar nicht erst über die Tat gesprochen wird.“ Die Heidelberger Fachberatungsstelle setzt sich seit 41 Jahren gegen sexualisierte Gewalt ein und leistet beratende Unterstützung und Prävention. Laut einer Mitarbeiterin ist der Grund für die wenigen Anzeigen vor allem die Angst vor der Viktimisierung, die viele Opfer während des Anzeigeprozesses erfahren. Dabei werde die geschädigte Person häufig verstärkt in die Opferrolle gedrängt. Außerdem werde dem Opfer oft ein Gefühl von Mitschuld vermittelt.
Dem Opfer wird ein Gefühl von Mitschuld vermittelt
Emma hat ebenfalls einen Anzeigeprozess durchlaufen. Dieser beinhaltete eine stundenlange, detaillierte Befragung über die Ereignisse. Zuvor hatte ein Familienmitglied ohne ihr Einverständnis die Polizei über ihre Situation informiert. „Beim Gespräch mit der Behörde fühlte ich mich, als sei ich als Opfer in der Bringschuld. Ich musste im Büro einer Kommissarin über mehrere Stunden intime Fragen beantworten und jedes kleinste Detail zu den Erlebnissen erzählen. Mir ist klar, dass das nötig ist, jedoch war ich gar nicht in der Lage, alle Zusammen – hänge richtig zu erk lären“, sagt sie. Heraus kam bei dem Verfahren nichts. Ei n i g e Z eit danach bekommt die Studentin einen Brief von der Staatsanwaltschaft, der sie darüber informierte, dass das Verfahren eingestellt wurde. Grund dafür seien widersprüchliche Aussagen und ein Mangel an Beweisen gewesen. „Als das Verfahren dann eingestellt wurde und der Brief kam, fühlte es sich an, als stünde ich wieder ganz alleine da. Ich dachte eigentlich, dass mir bei der Polizei geholfen wird, doch stattdessen fühlte ich mich, als würde mir nicht geglaubt oder als sei es meine Schuld, dass meine Aussage nicht genau genug war.“
„Es fühlte sich an, als stünde ich alleine da“
Nervös zupft Emma an der Verpackung ihres Teebeutels. Das heiße Wasser schwappt dabei in der Tasse hin und her. Ihre Stimme w ird zittrig. „Den Ausgang des Verfahrens empfinde ich als Sieg des Täters“, sagt sie. Ein Symptom des Traumas ist die sogenannte Dissoziation. Dabei handelt es sich um einen Selbstschutzmechanismus, den auch Emma erlebt hat. Während des Averfahrens stellt Dissoziation ein großes Hindernis für Opfer sowie die Behörden selbst dar. Der Frauennotruf spricht von der „Salamitaktik“: Das Gehirn teilt die Erinnerung an das Geschehene in „kleine Scheibchen“ auf und speichert diese in verschiedenen Bereichen des Gehirns, um so die Last des E r f a h r e n e n zu verringern. Beim Aussageprozess könne sich das Opfer nicht an die Zusammenhänge der Tat erinnern und eventuell unschlüssige Aussagen machen. Dies stellt ein gravierendes Problem für die Strafverfolgung dar. Örtliche Behörden nehmen die Aussagen auf und leiten sie an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese prüft, ob das Verfahren aufgenommen werden kann. Auf Rückfrage zu diesem Prozess an das Polizeipräsidium Mannheim antwortet eine Pressesprecherin: „Sobald ein Anfangsverdacht einer Straftat vorliegt, werden in jedem Fall umgehend Ermittlungen eingeleitet und ein mögliches stra bares Handeln geprüft. Die Geschädigten selbst, aber auch Zeugen und Beschuldig te, haben j e w e i l s d i e M ö g l i c h k e i t i m R a h me n der Ermittl u n g s a r b e i t auf objektive Befunde hinz u w ei s en , d ie du rc h d ie Kriminalbeamten:innen dann entsprechend überprüft und dokumentiert werden. In jedem der genannten Fälle wird am Ende ein Ermittlungsbericht an die zuständige Staatsanwaltschaft vorgelegt, der sowohl die subjektiven, als auch die objektiven Befundergebnisse beinhaltet.“ Basierend darauf prüft die Staatsa n w a l t s c h a f t s c h l i e ß l i c h den Sachverhalt und entscheidet dann über das weitere Vorgehen. Die gerichtliche Verwendbarkeit der Aussage sei dennoch gering, wenn das Opfer dissoziiert, so der Frauennotruf. „Für die Polizei ist es wichtig, dass das Opfer sich an alles erinnert. Das Opfer selbst kann jedoch auch dann mit der Tat abschließen, wenn es Geschehnisse ausblendet. Das ist eine Selbstschutzfunktion. Wenn Opfer zu stark dissoziieren, würde ich deshalb nie empfehlen, anzuzeigen“, sagt dazu eine Mitarbeiterin des Frauennotrufes. „Die Polizeibeamt:innen können dann nichts machen. Weder das Opfer, noch die Polizei hat Schuld daran.“ Wichtig sei es, das Geschehene aufzuarbeiten und darüber zu sprechen, um einen Umgang damit zu finden. „ A m b e sten geschieht das schon vor dem Anzeigepro -zess, damit sich das Opfer auf die Befragung einstellen, das Erfahrene sortieren und so möglichst genaue Antworten liefern kann.“ Eine frühzeitige psychologische Betreuung spielt für den Umgang mit Überlastungsmechanismen wie Dissoziation und so für den gesamten Verlauf des Anzeigeprozesses also eine wesentliche Rolle. „Die Rolle der Polizei ist allerdings eine andere.“ Obwohl eine psychologische Unterstützung essentiell ist, fehlt sie in der Praxis häufig.
Häufig fehlt eine psychologische Unterstützung
So auch i n E m m a s Fall. Von der Behörde selbst wurde ihr keine Beratungsstelle oder ähnliches empfohlen. Nach der polizeilichen Befragung hörte sie für fast zwei Jahre auf, über die Vorfälle zu sprechen. Erst sehr spät suchte sie sich professionelle Hilfe im Rahmen einer Psychotherapie. Eine Mitarbeiterin der Fachberatungsstelle sagt dazu: „Der Frauennotruf pflegt Kontakt zur örtlichen Polizeibehörde. Es gibt sehr engagierte Polizist:innen.“ Dennoch sei es von einz e l n e n B e a mt : i n n e n abhängig, ob Broschüren mitgegeben werden oder nicht. Laut Pressestelle des Häufig fehlt eine psychologische Unterstützung Dem Opfer wird ein Gefühl von Mitschuld vermittelt „Es fühlte sich an, als stünde ich alleine da“ Polizeipräsidiums erhalten Opfer spätestens beim Bekanntwerden einer Straftat Hinweise und Informationen zu Beratungsstellen und möglichen Anlaufstellen. Außerdem verweist die Polizei auf die vermehrte Durchführung von audiovisuellen Vernehmungen von Kriminalbeamt:innen, um die Belastung für die Geschädigten so gering wie möglich zu halten. So könnten unter Umständen Mehrfachvernehmungen verhindert werden. 2016 erfolgte eine Sexualstrafrechtsreform, seit der die Maxime „Nein heißt Nein“ gilt. Ist das Opfer jedoch nicht in der Lage, explizit „Nein“ zu sagen, so wird es während der Beweisaufnahme schwierig. Vergewaltigungen lassen sich im Rechtssystem deshalb nicht einfach sanktionieren. Oftmals steht Aussage gegen Aussage.
Oftmals steht Aussage gegen Aussage
Der Frauennotruf sieht dies ähnlich. „Das Gefühl, dass es unfair ist, das ist richtig. Das Rechtssystem ist nicht unbedingt fair, aber es wendet das Gesetz an.“ Für Frauen ab 18 gäbe es schon eine kostenlose psychologische Prozessbegleitung. Der Frauennotruf sorgt auch dafür, dass Opfern Rechtsanwält:innen zur Verfügung gestellt werden. Sie begleiten auch selbst das Verfahren. Die Zahl der Möglichkeiten ist hoch, die bürokratischen Hürden jedoch auch. Die Hilfestellungen müssen vorerst beantragt werden. „Dahingehend gehören Opferrechte weiter gestärkt“, so die Mitarbeiterin des Frauennotrufs. Emma muss bis heute mit den Folgen ihres Traumas leben. „Wenn jemand das gleiche Parfüm wie der Täter trägt, bekomme ich Flashbacks.“ Auch mit Albträumen, Panikattacken und starker Schreckhaftigkeit hat sie zu kämpfen. „Das Schlimmste ist, zu wissen, dass der Täter wahrscheinlich noch in der gleichen Stadt wohnt und ich ihm theoretisch immer über den Weg laufen könnte“, sagt sie. Das sei in den letzten drei Jahren zwar noch nie passiert, dennoch sieht sie den Täter täglich in den Gesichtern fremder Menschen auf der Straße. Um die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten, ist sie bis heute in psychologischer Behandlung. Der Gedanke an den g e s c heiter ten Anzeigeprozess ist bis heute retraumatisierend. „Ein Jahr lang hatte ich den Brief der Staatsanwaltschaft in einer Kiste liegen“, sagt sie. „Irgendwann habe ich ihn verbrannt, weil ich so verletzt war. Ich dachte, es kann mir vielleicht helfen, damit abzuschließen, aber das hat es leider nur bedingt.“ Am Ende des Gespräches hat sie die Verpackung ihres Teebeutels in kleine Schnipsel gerissen. Von dem zittrigen Unterton in ihrer Stimme ist nichts mehr zu hören. Sie richtet sich im Sessel auf und scheint fest entschlossen. „Auch wenn mich diese schlimmen Erlebnisse sehr beschäftigen, bin ich als Person viel mehr als nur die Tat. Ich möchte anderen Betroffenen eine Stimme geben. Es ist wichtig, dass andere wissen, wie sich das anfühlt. Außerdem wünsche ich mir sehr, dass bei sexueller Gewalt der Fokus in Zukunft stärker auf dem Täter liegt. Auch wenn es um Dinge geht, die mir passiert sind, sollte man nicht vergessen, dass dazu eine Person gehört die mir das angetan hat.“
(*) Name von der Redaktion geändert
Josefine Nord studiert Politikwissenschaften und Literaturwissenschaft und schreibt seit dem Wintersemester 2021/22 für den ruprecht. Nach langer Zeit in der Leitung widmet sie sich nun hauptsächlich Meinung, investigativen Recherchen und gesellschaftskritischen Themen.
Carla Scheiff interessiert sich für Kultur und Politik und studiert deshalb Germanistik im Kulturvergleich und Politikwissenschaften. Seit 2021 schreibt sie für den ruprecht und leitet Seite 1-3. Am liebsten widmet sie sich gesellschaftspolitischen Themen und Fragen, die unsere Generation bewegt.