Schon allein mit der Wahl des Buchtitels spricht die Schweizer Journalistin Nina Kunz den Generationen X, Y und Z aus der Seele: „Ich denk, ich denk zu viel“ heißt die Sammlung ihrer essayistischen Texte, mit der die 29-jährige dieses Jahr auf die Shortlist des Clemens-Brentano-Preises der Stadt Heidelberg gesetzt wurde. Seit 2017 schreibt sie regelmäßig für Das Magazin, ihre Texte erschienen unter anderem in der ZEIT, dem ZEITmagazin und in der Neuen Zürcher Zeitung. In den Jahren 2018 und 2020 wurde sie zur Schweizer Kolumnistin des Jahres gewählt.
Dein Buch beginnt mit einem Zitat von Erich Kästner: „Wer keine Angst hat, hat keine Phantasie.“ Inwiefern bezieht sich das Zitat auf dich und deine Texte?
Ich habe dieses Zitat für das Buch gewählt, weil ich lange keinen Zugang zu meinen Ängsten fand, der produktiv war. Ich war immer nur gelähmt. Doch in den Essays sind die Unbehagen zu einer Art Werkzeug geworden, mit denen ich die Welt betrachte. Ich verpasste ihnen also eine neue Aufgabe. Und genau diese Umdeutung steckt für mich auch in diesem Kästner-Zitat drin.
In deinen Texten verbindest du Alltagsbeobachtungen über wissenschaftliche und philosophische Theorien zu alltagsphilosophischen Ansätzen. Sollten wir uns alle mehr der Alltagsphilosophie widmen, um Sinnkrisen und Selbstzweifel zu überwinden, oder versuchen weniger über Details nachzudenken?
Boa, keine Ahnung. Im Buch – und das ist mir wichtig – gebe ich auch keine Tipps. Die Essays sind Einladungen in meine Gedankenwelt, nicht mehr, nicht weniger. Was ich aber sagen kann, ist: Für mich war es enorm hilfreich, meine Krisen mit den Krisen der Gegenwart zusammenzudenken. Sprich: die Klimakrise, die Idee des unbegrenzten Wachstums, die anhaltende Ungleichheit etc. an meinen Alltagsempfindungen zu spiegeln. So bin ich etwa zum Schluss gekommen, dass viele Erzählungen, mit denen ich aufgewachsen bin, ziemlich unglücklich machen.
In deinen Gedankengängen und Impulsen können sich viele junge Menschen wiederfinden. Ist es nicht merkwürdig, wenn sich andere Menschen mit deinen eigenen Gedanken identifizieren?
Es ist bestärkend und schräg zugleich. Denn seit der Publikation des Buches haben sich tatsächlich mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Menschen bei mir gemeldet, die meinten: Oh mein Gott, das habe ich auch schon mal gedacht! Es freut mich enorm, dass die Texte „relatable“ sind, aber ehrlich gesagt weiß ich noch gar nicht, was ich mit diesem Feedback genau anfangen soll. Schließlich wollte ich nie ein Buch über eine „Generation“ schreiben. Dieses Generationengerede finde ich oft so pauschalisierend. Doch nun merke ich: Einige Punkte in diesem Buch scheinen doch weit über mein eigenes Erleben hinauszugehen. Was hat das zu bedeuten? Somebody tell me!
In einem deiner Texte bedankst du dich bei deiner Mutter und Großmutter für das kleine Matriarchat, das sie geschaffen haben. Wie siehst du als Feministin das Konzept des Matriarchats? Ist der erste Schritt dorthin vielleicht, dass Frauen den Schreibstil ihrer E-Mails verändern und den Gebrauch des Konjunktivs minimieren?
Vermutlich gibt es nicht den ersten Schritt. Und ich bin mir auch nicht sicher, dass das Matriarchat das Ziel ist. Die Abschaffung bestehender Ungleichheiten wäre schon viel. In meinem Leben war es einfach so, dass ich durch meine alleinerziehende Mutter und meine Großmutter schon früh gesehen habe, wie unsinnig-unfair zum Beispiel Care-Arbeit organisiert ist. Oder wie das ganze Leben um das Ideal der Kernfamilie herumorganisiert wird. Das war erhellend. Aber damit sich was ändert, braucht es wohl beides. Veränderungen auf der strukturellen Ebene. Sowie ein Verständnis dafür, dass zum Beispiel „Raum-Einnehmen“ ganz anders gelesen wird, je nachdem, wer es tut.
Was ist deiner Meinung nach, gefährlicher: „Kopfloses Rumwursteln“ (konstant in mehrere Projekte involviert sein) oder „Workism“ (Überidentifikation mit dem eigenen Job)? Oder hängt beides untrennbar zusammen?
Ich glaube, das ist ganz individuell. Rumwursteln und Workism schließen sich ja auch nicht aus. Und nochmals: Mir geht es im Buch nicht darum, irgendwelche Lebensentwürfe abzuwerten oder zu hypen. Es geht mir darum zu fragen: Was halten wir für die Norm? Warum hat zum Beispiel Lohnarbeit diesen Stellenwert in unserer Gesellschaft? Warum ist „Busy-Sein“ heute fast schon ein Statussymbol?
Du hast dein Buch „aus Versehen“ geschrieben: Im Vorwort erklärst du, dass es entstanden ist, während du nicht einmal daran gedacht hättest ein Buch zu schreiben. Was hat dich doch dazu bewogen, ausgewählte Texte in einem Buch zu veröffentlichen?
Ich weiß ehrlich nicht, ob ich 2021 ein Buch veröffentlicht hätte, wenn ich mir eines Tages gesagt hätte: So, jetzt schreibe ich ein Buch. Ich wäre unter dem Druck zusammengebrochen. Dadurch, dass ich aber immer schrieb und irgendwann merkte, dass es in den Texten wiederholt um Ängste geht, schien es einfach irgendwann sinnvoll, die in eine Reihenfolge zu bringen. Wobei, das klingt jetzt so einfach. In Wahrheit war es ein langer Prozess, mit viel Umschreiben und schlaflosen Nächten.
Was liest du gerne, wenn du gerade nicht selbst schreibst? Was ist dein Lieblingsbuch?
Gerade lese ich „Coventry“ von Rachel Cusk – eine schräge und großartige Essay-Sammlung. Ich mag Essays allgemein, weil man den Autor:innen beim Denken zusehen kann. Und parallel dazu lese ich: „We Are The Weather“, ein Buch über die Klimakrise von Jonathan Safran Foer. Und mein Lieblingsbuch? Schwer zu sagen. Vielleicht „Fabian“ von Erich Kästner, „Die Empathie-Tests“ von Leslie Jamison oder „Girl, Woman, Other“ von Bernardine Evaristo. Oh – und sehr gut ist auch: „Other People’s Clothes“ von Calla Henkel. Das ist ein feministischer Thriller!
Du hast Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Zürich studiert und warst bei der dortigen Studierendenzeitung tätig. In deinem Buch sind die Texte in drei Abschnitte unterteilt: „Sinnkrisen“, „Selbstzweifel“ und „Sehnsüchte“. Alles Begriffe, die sicher nicht nur angehende Geisteswissenschaftler:innen beschäftigen, denen ein Schicksal im Elfenbeinturm droht. Hast du das Gefühl, dem Elfenbeinturm entkommen zu sein oder wird man ihn nie ganz los – eine Art „Arrival Fallacy“?
Gute Frage. Ich weiß nicht, ob ich dem Elfenbeinturm entkommen bin. Nach dem Studium wollte ich mich vor allem abgrenzen von der Sprache der Uni, die ich oft als floskelhaft und elitär empfand. All die Passiv-Konstruktionen und Poser-Begriffe. Es fühlte sich an, als müsste ich zuerst all das verlernen, um meine Sprache zu finden. Doch gleichzeitig vermisste ich bald die präzise Art des Denkens, die ich an der Uni kennengelernt hatte. Vermutlich ist es so: Egal, was man macht – es gibt Ängste und Zweifel. Ich habe einfach gemerkt, dass es ein großes Glück und ein immenses Privileg ist, im Arbeitsalltag Ängste und Sorgen zu haben, die sich sinnstiftend anfühlen und nicht nur zermürbend.
Am 14. Mai gibst du eine Lesung auf dem Campus Festival in Konstanz. Was würdest du den Student:innen mitgeben, was du während deines eigenen Studiums gerne gewusst hättest? Und welchen musikalischen Act hörst du zum Aufwärmen für deine Lesung – oder danach zum Feiern?
Ich hätte – rückblickend – vielleicht stärker wahrnehmen sollen, was für eine fantastische Zeit das Studium, trotz dem ganzen Stress, war. Dieser Mix aus Ideen, langen Mittagessen in der Mensa und Freiheiten war schon speziell. Vor der Lesung kann ich keine Musik hören. Am Campus Festival will ich danach aber unbedingt Alli Neumann sehen. Sie klingt ein bisschen wie eine moderne Nina Hagen – und nach Nina Hagen bin ich benannt.
Was hast du gedacht, als du von deiner Nominierung für den Clemens-Brentano-Preis erfahren hast?
Ich saß in einem Café in Spanien und habe morgens um zehn eine E-Mail von meinem Verleger bekommen, der mich über die Nominierung informierte. Es fühlte sich surreal an, weil ich keine Ahnung hatte, dass mein Buch für diesen Preis überhaupt infrage kam. Dann habe ich mich gefreut und in die Sonne geblinzelt. Dann musste ich auch schon wieder los, weil ich eine Deadline hatte.
Was ist das Aufregendste am Journalistinnen-Dasein für dich?
Dass ich permanent neue Dinge lernen darf.
Wird das Butterbrot über- oder unterbewertet? Hast du heute schon eins gegessen?
Ich werde so häufig auf dieses Kapitel angesprochen. Wie lustig! Und nein: Heute habe ich noch kein Butterbrot gegessen. Dafür aber ein Müesli mit griechischem Joghurt und Ovomaltine-Pulver.
Das Gespräch führte Mona Gnan.
Mona Gnan studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.