Liebe Frau Pohl, Sekten bekommen immer mehr Zuwachs, auch auf dem Campus. Gibt es Ihrer Meinung nach ein Sektenproblem an deutschen Universitäten?
Ich würde das gar nicht auf Universitäten beziehen, sondern eher eine allgemeine Einordnung geben. Was wir als Beratungsstelle ZEBRA wahrnehmen ist, dass es heutzutage einen bunten Markt an sehr unterschiedlichen Weltanschauungsangeboten gibt, sowie weiterhin Menschen, die aus den verschiedensten Motivationen heraus an Spiritualität interessiert sind. Vor ein paar Jahrzehnten dachten wir noch, dass die Menschen die Lust am Glauben verlieren und sich davon abwenden würden. Aber das ist nicht eingetreten. Stattdessen können wir feststellen, dass viele Menschen nach wie vor auf der Suche nach Sinn, sich mit der Spiritualität beschäftigen, aber dies heute viel weniger institutionsgebunden stattfindet. Eher wird eine Art
„Patchwork”-Glauben praktiziert, bei dem man sich sozusagen aus unterschiedlichen Bausteinen die eigene Spiritualität zusammenbastelt. Es gibt aber auch noch diejenigen, die zu Gruppen tendieren, an die sie sich langfristig binden können. Dort finden sie Halt, denn die Leitplanken solcher Gruppen helfen auf den ersten Blick, die Komplexität des Lebens zu verringern. Insofern haben Gruppierungen, die man als sogenannte „Sekte” bezeichnen könnte, nach wie vor Konjunktur. Allerdings sind wir mit dem Wort „Sekte” vorsichtig, denn dieser ist recht unscharf. Wir sprechen lieber von gefährlichen weltanschaulichen Angeboten. Der Sektenbegriff passt längst nicht mehr für all die Phänomene, die wir da auf dem Markt haben, und er hat eine sehr stigmatisierende Wirkung auf alle Gruppierungen, die damit belegt werden. Wir unterteilen grundsätzlich nicht zwischen guter und schlechter Religion, Sekte und Kirche, sondern versuchen diesen Begriff im Dialog zu vermeiden und eher auf Faktoren aufmerksam zu machen, die dafür sorgen, dass eine Gruppe gefährlich wird.
Am Wichtigsten im Umgang mit Betroffenen ist Geduld.
Was haben Sie in letzter Zeit am Campus beobachtet im Hinblick auf diese gefährlichen Gruppierungen?
Wir haben immer mal wieder Anfragen, gerade in Bezug auf Erstsemester. Wenn man studiert, zieht man von zu Hause aus, man kommt in einen neuen Kontext, man kommt auch in eine neue Stadt, man kennt niemanden. Man ist in einer sehr vulnerablen Situation, weil man sein soziales Netzwerk neu aufbauen muss. Und da gibt es tatsächlich einige Gruppierungen, die diese vulnerable Lebenssituation gezielt für sich zu nutzen wissen.
Vulnerabilitätsfaktoren gibt es im Leben immer wieder. Die bringen einen schnell dazu, auch mal eine neue Gruppierung auszuprobieren. Das ist völlig normal, wir alle brauchen ein Gefühl von sozialer Zugehörigkeit. Es geht hier vor allem um die Frage, ab wann die Gruppe ungünstig wird. Ab wann gibt sie nicht mehr nur Halt, sondern auch Enge. Wann gibt sie nicht mehr Orientierung, sondern liefert rigide Vorschriften, wie ich mein gesamtes Leben zu gestalten habe. Das sind Unterscheidungskriterien, die bei der Frage helfen, ob ich da gerade in ein Abhängigkeitsverhältnis reinrutsche.
Und genau diesen Romeo-Und-Julia-Effekt müssen wir in der Anfangszeit verhindern.
Wie gehe ich denn mit Menschen um, wenn ich merke, dass sie in eine solche gefährliche Gruppierung hineingeraten sind?
Gerade in der Anfangsphase sind Betroffene häufig sehr begeistert und haben einen hohen missionarischen Eifer. Wir raten Bezugspersonen dazu, sich klar abzugrenzen, aber trotzdem freundlich zu bleiben. Sozusagen weich auf der Beziehungsebene, aber hart auf der Sachebene sein und beides auch auszudrücken: „Da geh ich nicht hin, die Gruppe ist mir suspekt. Aber mir liegt was an dir und ich möchte gern weiter in Kontakt sein.” Ein zweiter Punkt ist: Verstehen statt zu Verurteilen. Wir begeben uns schnell in eine verurteilende Haltung und grenzen den anderen aus, halten ihn für naiv.
Wichtig ist vor allem, zu schauen, was der andere braucht. Auf der Sachebene bringen Diskussionen meistens wenig. Es kann in seltenen Fällen helfen, der Person eine Einordnung zu geben, aber meistens docken solche Gruppierungen eher an Bedürfnissen der Personen an. Deswegen macht es mehr Sinn, dort anzusetzen. Dabei kann die Abgrenzung aber sehr wichtig werden. Man muss liebevoll auch für sich selbst Grenzen ziehen und wenn diese nicht respektiert werden, gegebenenfalls weitere Menschen hinzuziehen. Gerade wenn von der anderen Seite ein grenzüberschreitendes Verhalten kommt, muss man gegebenenfalls auch mal etwas strenger werden. Trotzdem liegen nur 50% bei einem selbst. Was der andere dann damit macht, können wir nicht steuern. Natürlich kann man sich auch gerne an uns als Beratungsstelle wenden, um generelle Informationen zu bekommen oder sich individuell beraten zu lassen. Am Wichtigsten im Umgang mit Betroffenen ist Geduld.
Also sind nach Ihrer Erfahrung die Anzeichen, dass jemand sich einer solchen Gruppe angenähert hat, gerade in der Anfangsphase, gar nicht so subtil?
Oft ist es, wie wenn sich jemand frisch verliebt hat, nur eben in eine Gruppe oder Weltanschauung. Frisch Verliebte haben das Bedürfnis, allen Menschen ihre Geliebten vorzustellen und zu sagen: „Hey, das ist das tollste was es gibt, ich nehm dich da auch mal mit, das ist wirklich lebensverändernd, komm und schau!” Mich erinnert das manchmal an Romeo und Julia. Die beiden wurden am Anfang auch stark angefeindet. Aber diese Verbote und Kritiken haben sie letztendlich nur noch stärker zusammengetrieben. Und genau diesen Romeo-Und-Julia-Effekt müssen wir in der Anfangszeit verhindern. Ermutigen wäre auch falsch, aber frontal in die Kritik gehen oder nichts zu tun, wäre fatal. Anders als man denkt, führt zu viel offene Kritik oft zu einem Boomerrang-Effekt, der die Person nur noch stärker rein treibt. Am besten ist es, wenn die betroffene Person sich selbst hinterfragt. Nach einer gewissen Zeit kommt man meistens automatisch in eine Differenzierungsphase, in der die Person beginnt, selbst die Gruppe zu hinterfragen. Nach 3 bis 6 Monaten ist oft ein günstiger Zeitpunkt, um auch als Bezugsperson nochmal wirklich kritisch einzusteigen und den Prozess zu beschleunigen. Wenn wir Aussteigende fragen, was ihnen geholfen hat, sagen sie immer: „Diejenigen, die mit mir in Kontakt geblieben sind. Diejenigen, die mich nicht aufgegeben haben, obwohl ich total schräg drauf war und ein völlig abstruses Weltbild vertreten hab.” Denn wenn es erstmal so weit geht, dass er alle anderen Kontakte aufgegeben hat, ist ein Ausstieg um so schwieriger.
Und was kann ich tun, wenn ich selbst Teil einer solchen Gruppe bin und nach einer Weile anfange zu zweifeln?
Es ist sehr häufig so, dass Gruppierungen am Anfang sogenanntes „Love-Bombing” betreiben und es den Betroffenen sehr gemütlich machen. Es wird feines Essen angeboten, es gibt Kinoabende und so weiter. Sobald man in das Sozialgefüge der Gruppe eingebunden ist, zieht sich die Schlinge enger und die Erwartungen steigen. Es ist also gut, wenn man solche Bindungsprozesse frühzeitig erkennt. Wenn man dann bei sich erste Widersprüche bemerkt, raten wir dazu, diese nicht in der Gruppe zu besprechen, sondern mit Menschen außerhalb der Gruppe. Die können das viel besser reflektieren und haben eine Distanz zum Geschehen. Man sollte sich also unbedingt Freunden oder einer Beratungsstelle anvertrauen. Genauso wichtig ist es aber, den Umgang mit sich selbst zu überdenken. Viele sind in Selbstzweifeln gefangen und verurteilen dann sich selbst, anstatt die Gruppe. Man muss sich selbst gut kennen, um solche Muster wiederzuerkennen und zu durchbrechen. Das ist etwas, was in jedem Gruppenkontext eine Rolle spielt und an dem jeder arbeiten kann.
Wir alle sind an der ein oder anderen Stelle verführbar.
Was sind denn Warnzeichen, an denen man erkennen kann, dass sich diese Gruppe in einem gefährlichen Bereich befinden könnte?
Da haben wir von ZEBRA eine schöne Checkliste auf unserer Homepage, die genau solche Risikofaktoren listet. Ein großer Risikofaktor ist zum Beispiel die Sozialkontrolle. Übt die Gruppe starke Kontrolle über soziale Kontakte aus, z.B. in dem Kontakte zu Freunden und Familie, aber auch generell zu Außenstehenden unterbunden werden? Ein anderer Risikofaktor ist das Thema Finanzen. Manche Gruppierungen wollen mindestens ein Zehntel deines Einkommens. Wird da Druck aufgebaut zu spenden, vielleicht auch indirekt durch Offenlegen der Spenden? Viele Gruppen verlangen auch hohe Gebühren für verpflichtende Kurse. Viele Gruppen positionieren sich klar bildungsfeindlich und verlangen z.B., dass Mitglieder ihr Studium abbrechen. Gerade wenn man zweifelt, behaupten sie gerne, dass man auch innerhalb der Gruppe Karriere machen kann. Das ist sehr ungünstig, denn so verstärkt sich nicht nur die Bindung an die Gruppierung, sondern man erhält auch keine weltliche Qualifikation mehr, mit der man später auf dem Arbeitsmarkt etwas anfangen könnte. So kommt man noch schwieriger raus. Es gibt auch ganz klar demokratiefeindliche Gruppierungen. Da werden Gruppenregeln über Gesetze und demokratische Werte gestellt. Oder Feindbildpflege, zum Beispiel wenn Gruppen zwischen den „Guten” innerhalb und den „Bösen” außerhalb der Gruppe unterscheiden. Es gibt aber auch Gruppierungen, die im Bereich Gesundheit, Methodenpraktiken anwenden, die potentiell gesundheitsschädigende Wirkungen haben können oder die von wichtigen Behandlungen abraten. Eine weitere Redflag ist es, wenn Zweifel als Charakterschwäche abgetan werden. Oft haben die Gruppierungen Immunisierungsstrategien. Wenn es dir gut geht, liegt das an der Gruppe, aber wenn du zweifelst, ist das alleine deine Schuld und deine eigene Schwäche. Auch Autorität spielt eine Rolle, so z.B. wenn ein „Meister” an der Spitze der Gruppe steht, dem bedingungsloser Gehorsam erwiesen werden muss.
Vieles von dem, was Sie gesagt haben, läuft auf sozialer Ebene ab. Gibt es auch etwas, was die Universität tun kann, um ihre Studierenden vor solchen Gruppierungen zu schützen?
Universitäten müssen sich immer wieder fragen, welche Werbung sie erlauben. Das ist auch eine institutionelle Frage, weil wir Glaubensfreiheit haben. Wie viel Raum will die Uni sowas zur Verfügung stellen? Außerdem können Universitäten aufklären, zum Beispiel indem sie auf Beratungsstellen verweisen. Bei kritischen Entwicklungen können sie Informationsveranstaltungen anbieten und Ansprechpartner vermitteln. Eine gewisse Sensibilität ist ganz wichtig. Damit wird klar, dass die Uni nicht wegschaut, sondern sich für diese Entwicklungen interessiert und Sorgen von Studierenden ernst nimmt. Erstmal braucht es dafür aber eine Struktur, die Ansprechpartner zur Verfügung stellt und auch ein tieferes Verständnis für die Problematik.
Wie sieht denn das Unterstützungsangebot von ZEBRA aus?
ZEBRA wird vom Kultusministerium Baden-Württemberg gefördert. Wir bieten vor allem Beratung an. Telefonisch, oder persönlich bei uns. Dabei orientieren wir uns sehr an den Bedürfnissen der Ratsuchenden. Manche wollen einfach Informationen oder eine Einordnung, andere wollen aber auch durch den Ausstiegsprozess begleitet werden. Was wir nicht bieten, ist therapeutische Unterstützung, aber wir können gegebenenfalls einen Therapeuten von außen hinzuziehen. Wir betreuen dann so lange, bis ein Therapeut gefunden wird. Ansonsten helfen wir einzuordnen, was die Menschen da erlebt haben. Auch im Vorfeld kann man uns anrufen, zum Beispiel bevor man in eine Gruppe reingeht. Dafür bieten wir auch ein Clearing an. Passt das, was ich mir rausgesucht habe, zu dem, was ich mir wünsche? Und welche Risiken oder Nebenwirkungen könnte es geben? Wir helfen dabei, eigene Bedürfnisse besser kennenzulernen, und zu gucken, dass man diese Bedürfnisse auf eine gute, risikoarme Art erfüllen kann, ohne dabei in Abhängigkeiten zu rutschen..
Wie kann man sich denn selbstsicher durch das sehr vielfältige Angebot an Weltanschauungen navigieren?
Um Selbstsicherheit aufzubauen, ist es wichtig, sich selbst zu kennen. Wir arbeiten gerne mit dem Säulenmodell der Identität. Demnach baut unsere Identität auf 5 Säulen. Wir brauchen ein soziales Netz, materielle Sicherheit, Werte und Normen, einen Beruf und Gesundheit. Wenn ich das weiß, kann ich merken, dass beispielsweise die Säule Soziales bei mir gerade nicht gut befüllt ist. Und dann bin ich automatisch sensibilisiert und kann mich darum kümmern. Wenn etwa das Thema Gesundheit bei mir eine Rolle spielt, dann bin ich vielleicht eher verführbar für esoterische Alternativen und medizinische dubiose Angebote. Wenn ich in einer finanziell prekären Situation hänge, dann bin ich anfälliger für einen Business-Coach, der einem verspricht, mit Nichtstun ganz schnell ganz viel Geld zu verdienen. Sich selbst gut reflektieren zu können und zu wissen, wo man verführbar werden könnte, ist essentiell . Es hilft aber auch, einen Überblick über den großen Markt an Angeboten zu haben. Zu wissen, ich bin damit nicht alleine. Sehr vielen anderen ist es auch schon passiert. Wir haben häufig Menschen, die sich aus Scham kaum trauen, mit uns zu reden. Enttabuisierung ist da auch wichtig, damit man sieht, sowas passiert vielen Menschen. Wir alle sind an der ein oder anderen Stelle verführbar. Wir sollten darüber sprechen, uns anvertrauen, Erfahrungen austauschen. Das hilft letztlich, einen Realitätsabgleich aufzumachen und zu sehen, das hängt nicht mit IQ zusammen. Es sind einfach sehr menschliche Bedürfnisse, die da angesprochen und ausgenutzt werden.
Das Interview führten Pauline Ammon und Faustyna Gonka.
...studiert Musikwissenschaften und Anglistik im Bachelor und leitet seit dem WiSe 25/26 das Ressort "Weltweit". Am liebsten schreibt sie über politisch und kulturell relevante Themen. Vor allem aber freut sie sich über jede Möglichkeit, spannende Dinge zu recherchieren.
...studiert derzeit Jura und fand im Frühjahr 2025 zum ruprecht. Leitet heute die Seiten 1–3 und begeistert sich für alle Geschichten, die mit „Eigentlich wollte ich nur kurz nachschauen…“ beginnen und dann in einem investigativen Kaninchenloch enden.









