Wer hilft bei Hausaufgaben, wenn die Eltern keine Ahnung haben? Der akademische Habitus ist ein Luxus, den viele nicht kennen
Grundschule, Gymnasium, Abitur, Bachelor. Wenn’s gut läuft, folgen Master und Promotion mit vielleicht noch dem einen oder anderen Doktortitel. Mama und Papa haben es ja auch so gemacht und generell ist das doch der normale Werdegang eines jeden Studis. Oder? Was ist denn, wenn Mama und Papa nicht studiert haben? Laut Definition gilt man dann als Erstakademiker:in.
Der Bildungsgrad der Eltern hat einen großen Einfluss darauf, welchen Abschluss die Kinder erreichen. Oft wird von einem Bildungstrichter gesprochen. Konkret heißt das: Für jede Bildungsstufe ist die Übergangsquote für Kinder aus akademischen Haushalten höher als für Erstakademiker:innen. Dadurch wird der Unterschied zwischen den beiden Gruppen mit höherem Bildungsgrad immer größer, wie zuletzt der Hochschulbildungsreport von 2022 zeigt.
Wie es in einzelnen Universitäten aussieht, ist oft unklar: Die Universität Heidelberg befolgt die Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes und dokumentiert die soziale Herkunft der Studierenden nicht. Klar ist dennoch: Auch wenn die soziale Herkunft im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht berücksichtigt wird, beeinflusst sie maßgeblich die Bildungschancen. Zudem zeigt die 22. Sozialerhebung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Der Bildungstrichter verläuft nicht in allen Studiengängen gleich steil. Vor allem in Medizin, Jura und Kunstgeschichte kommt es am häufigsten vor, dass die Studierenden aus akademischen Haushalten stammen.
Auch Lukas Hoffmann von der Claussen-Simon-Stiftung bestätigt diesen Umstand. Die Stiftung bietet mit ihrem „B-First-Stipendium“ eines der wenigen Stipendien an, die exklusiv für Erstakademiker:innen gedacht sind. Auf Nachfrage erklärt Hoffmann, dass sich in allgemeinen Stipendienprogrammen meist nur wenige Erstakademiker:innen bewerben. „Oftmals haben sie das Gefühl, gegen die Kinder aus Akademikerfamilien keine Chance zu haben.“ Bei dem Stipendium gibt es keinen hohen Abiturdurchschnitt, den man als Bewerber:in erreicht haben muss. Denn laut Hoffmann gehe die Abiturnote oft mit der Unterstützung aus dem Elternhaus einher. Eine deutliche Notensteigerung im Studium im Vergleich zur Schulzeit sei damit keine Seltenheit.
Aber was sind überhaupt die Herausforderungen für Studierende ohne akademischen Hintergrund? Neben dem finanziellen Aspekt scheitere es oft am fehlenden Wissen von zuhause, so Hoffmann. „Sich im oftmals elitär anmutenden neuen Umfeld der Akademia zurechtzufinden, ohne von zuhause das Know-How mitbekommen zu haben und sich diesen Habitus selbst erarbeiten zu müssen, ist ein ganz klarer Nachteil.“ Auch Betroffene, mit denen wir gesprochen haben, sind sich einig: Das fehlende Insiderwissen, fehlende Kontakte und damit die strukturelle Benachteiligung sind die größte Hürden, die man im akademischen Umfeld überwinden muss.
Lina studiert Jura und ist Erstakademikerin. „Ich habe mich vor allem in der Anfangszeit sehr benachteiligt gefühlt, weil ich zuhause niemanden hatte, der mal eben so über meine Hausarbeit liest. Das empfinde ich bis heute als großen Nachteil, da viele in meinem Umfeld ihr bereits bestehendes Netzwerk gekonnt ausnutzen können.“
Lilli studiert ebenfalls als Erstakademikerin und auch sie nimmt die fehlenden Ansprechpersonen als die größte Schwierigkeit wahr. Statt ihre Eltern fragen zu können, muss sie sich oft auf Internetrecherchen verlassen. „An der Uni hätte ich eine:n Mentor:in gebrauchen können, um auch die allerdümmsten Fragen stellen zu können. An der Schule wäre mehr Verständnis nötig gewesen. Ich hatte panische Angst, Unterricht zu verpassen, da ich genau wusste, dass es mir daheim niemand nochmal erklären kann.“
Auch Simons Eltern haben nicht studiert. Da er trotzdem in einer bildungsbürgerlichen Familie aufgewachsen ist, fallen ihm Unterschiede vor allem im höheren Semesterverlauf auf. „Dies betrifft vor allem das Verhalten und die Selbstverständlichkeit, mit der man sich in der Universität bewegt – man könnte sagen, den Habitus.“
Durch die Erfahrung, Erstakademiker:in zu sein, entwickeln viele aber auch neue Stärken. Lina glaubt, dass sie durch ihre Lebensumstände eine gute Mentorin für andere Erstakademiker:innen sein könnte. „Ich bin oftmals enttäuscht darüber, wie viel mehr Mühe ich mir im Vergleich zu anderen Studierenden geben muss. Dennoch bin ich stolz darauf, dass ich meinen Weg gehe, obwohl ich mit schweren Hürden ins Studium gestartet bin.“
Auch Rojin sieht einen Vorteil darin, dass sie schnell gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen. Sie hätte sich allerdings mehr Unterstützung von Lehrkräften in der Schule gewünscht und dass sie früher über studienfinanzierende Mittel informiert worden wäre. „Von universitärer Seite wäre es schön gewesen, Studierende auf gemeinnützige Organisationen wie Arbeiterkind aufmerksam zu machen, damit sie eine Community haben, um ihre Sorgen zu teilen und Unterstützung zu bekommen.“
Zumindest in Heidelberg ist die Einrichtung Unify der Universität auf das Problem aufmerksam geworden und bietet Vorträge, Mentoring und die Vermittlung von Hiwi-Stellen an. „Dabei geht Unify bewusst über die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgegebenen Vielfaltsdimensionen hinaus”, erzählt uns das Team. Zudem gibt es die Initiative Arbeiterkind.de, die neben umfangreichen Onlineangeboten auch durch zahlreiche Ortsgruppen vertreten ist. Mitbegründer und stellvertretender Geschäftsführer Wolf Dermann sagt, dass nicht nur Eltern ihren Kindern vermitteln können, dass Bildungsabschlüsse wertvoll seien. „Es fehlt eine Kultur der Einladung an die Hochschulen.“ Deshalb helfen deutschlandweit Ehrenamtliche anderen Erstakademiker:innen dabei, sich in der akademischen Welt zurechtzufinden, und nicht zuletzt dabei, den „Aufstiegsweg als den Erfolg zu verkaufen, der er ist.“
Ein prominentes Beispiel dafür, dass man es als Erstakademiker:in weit schaffen kann, ist Axel Dreher. Er ist Lehrstuhlinhaber für Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik am Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften in Heidelberg und hält die Makroökonomik-Vorlesung. Er erzählt, dass man als Erstakademiker:in zwar selbst an das nötige Wissen herankommen könne, es jedoch mehr Eigeninitiative benötige. „Vieles könnte man sich wohl aus der Gleichstellungspolitik abschauen“, sagt er über einen politischen Lösungsansatz.
Stipendiumsbetreuer Hoffmann sieht einen gesamtgesellschaftlichen Wandel als nötig, um die aktuelle Situation zu ändern. „Erste Schritte der Politik sollten ein darlehnsfreies Bafög ab der Oberstufe und eine bessere Beratungsstruktur sein.“
Solange sich die gesamtgesellschaftliche Lage noch nicht geändert hat, bleibt allen Erstakademiker:innen die Option, sich auf Stipendien wie das der Claussen-Simon-Stiftung zu bewerben oder die Unterstützung von Einrichtungen wie Unify oder Arbeiterkind.de, zum Beispiel in Form von Mentoring, zu beanspruchen – und natürlich, sich gegenseitig zu unterstützen.
Hier geht es zur Themenseite Soziale Herkunft von UNIFY der Universität Heidelberg, zum New Potentials Programm, zur Webseite von ArbeiterKind.de und zum Stipendium für Erstakademiker:innen
Von Ayeneh Ebtehaj und Bastian Mucha
Ayeneh Ebtehaj studiert Politikwissenschaft und Anglistik. Sie schreibt seit April 2023 für den ruprecht, am liebsten über Politik, Kultur und Themen, die Studis betreffen. Seit November 2023 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.
Bastian Mucha studiert irgendwas mit Naturwissenschaften (Molekulare Biotechnologie) und schreibt seit Sommersemester 2023 für den ruprecht. Neben der Leitung der Bildredaktion ist er vor allem für Illustrationen, Wissenschaft und Satire immer zu haben.