Höchste Art der weiblichen Emanzipation oder Inbegriff der Ausbeutung? Die Beratungsstelle Anna hilft betroffenen Personen in Heidelberg.
Kaum ein Berufsfeld in Deutschland ist ein so großes Streit- und gleichzeitig Tabuthema wie die Sexarbeit. Unter Sexarbeit versteht man die Bereitstellung sexueller Dienstleistungen gegen Entgelt. Dazu zählen die Arbeit in bordellähnlichen Betrieben, erotische Massagen oder auch Escort Services. Es wird geschätzt, dass zwischen 250 000 und 400 000 Menschen in der Prostitution in Deutschland arbeiten. Eine genaue Messung ist schwierig, da viele Personen es heimlich und illegal tun.
Seit 2002 greift in Deutsch- land der regulatorische Ansatz, welcher Prostitution legalisiert hat, damit Sexarbeiter:innen als Dienstleister:innen arbeiten dürfen. Dadurch sollten sie mehr gesellschaftliche Anerkennung erfahren und besser vor Ausbeutung geschützt werden. Dass das nicht funktioniert, zeigte sich im Verlauf der Recherche. Da es sich bei dem Großteil der Prostituierten in Deutschland um Mädchen und Frauen handelt, wird auch von geschlechterspezifischer Gewalt gesprochen. Die Kundschaft ist überwiegend männlich. Während manche Sexarbeit als die höchste Art der Emanzipation der Frau sehen, betrachten andere die Prostitution als Inbegriff ihrer Ausbeutung. Es mag stimmen, dass sich manche Frauen die Sexarbeit als Beruf aussuchen und ihrer Arbeit gerne und legal nachgehen. Aber viele tun dies nicht.
Das Dunkelfeld in der Prostitution ist groß. Viele Frauen sind Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Weitere Gründe für Prostitution sind schlechte Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und die daraus resultierende Armut.
Um in Deutschland legal als Sexarbeiter:in tätig zu sein, muss man sich nach dem seit 2017 geltenden Prostitutionsschutzgesetz anmelden. Sexarbeiter:innen müssen sich einer gesundheitlichen Beratung unterziehen und sich anschließend beim Ordnungsamt melden. Eine Anmeldung ist aber nur mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis möglich. Bisher sind laut dem Statistischen Bundesamtes nur 23 700 in der Prostitution tätigen Personen bundesweit gemeldet – ein starker Kontrast zu den oben genannten 400 000.
In einem Beitrag des Spiegel aus diesem Jahr wird die Zahl der aus dem Ausland kommenden Frauen und Mädchen, die sexuelle Dienste anbieten, je nach Region in Deutschland auf 80 bis 98 Prozent geschätzt. Auch in Heidelberg gibt es Prostitution und seit 2018 eine extra für diesen Bereich tätige Beratungsstelle. Im Zentrum der Altstadt hat die Beratungsstelle „Anna“ des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Heidelbergs ihren Standort. „Anna“ wird von der Stadt Heidelberg und dem Sozialministerium Baden-Württemberg gefördert und dient der Beratung aller Personen, die in der Prostitution in Heidelberg tätig sind oder waren – egal welchen Glaubens und welcher sexuellen Orientierung. Zudem werden Angehörige von betroffenen Personen und Fachkräfte von anderen Behörden beraten.
„Anna“ geht in die Prostitutionsstätten und stellt Kontakt zu den Menschen dort her, damit diese sie kennenlernen und Schwellenängste genommen werden. „Die Ziele bestimmen die Menschen, die zu uns kommen“, erklärt Nora Bretschi, Mitarbeiterin der Beratungsstelle. „Häufige Beratungsthemen sind finanzielle Schwierigkeiten, der Ausstieg aus der Prostitution oder die medizinische Versorgung. Viele Personen sind nicht krankenversichert, am wenigsten jene aus dem Ausland. Egal ob selbstständig, legal oder illegal.“ Zwar ist eine Krankenversicherung Pflicht, jedoch wird dies in der Regel nicht überprüft. Nora Bretschi kann bestätigen, dass viele Frauen, die sie betreut, aus Südosteuropa kommen.
Die Beratungsstelle hilft auch bei der psychosozialen Stabilisierung. Eine Studie von Melissa Farley, klinische Psychologin und Wissenschaftlerin, die 2003 in neun Ländern durgeführt wurde, ergab, dass rund 68 Prozent der Frauen in der Prostitution an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung sowie an psychischer Dissoziation leiden. Hinzu kommt die Stigmatisierung und die daraus folgende Ausgrenzung aus der Gesellschaft.
Besucher:innen der Beratungsstelle sind vor allem Frauen zwischen 20 und 40 Jahren. Da viele aus dem Ausland kommen, sprechen sie schlecht bis gar kein Deutsch. Manche wurden durch Täuschung nach Deutschland gelockt. Andere wussten, dass sie in der Prostitution tätig sein würden, hatten jedoch andere Erwartungen an den Job. Viele Frauen berichten, dass sie mit dem hier verdienten Geld ihre Familie in der Heimat unterstützen. Von der Prostitution sind also auch andere Menschen abhängig, was den Druck erhöht, dieses Geld zu verdienen.
Sollten sich Personen aber doch für einen Ausstieg entscheiden, besitzt die Beratungsstelle eine Ausstiegswohnung. Zudem bietet sie Unterstützung beim Verbessern der Deutschkenntnisse und hilft bei der beruflichen und sozialen Neuorientierung, die oft ein Hindernis darstellt.
Eine Studie der EU aus dem Jahr 2014, die von dem Ausschuss für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter in Auftrag gegeben wurde, befasst sich mit der sexuellen Ausbeutung und Prostitution und deren Auswirkungen auf die Gleichstellung der Geschlechter. Einige Mitgliedsstaaten schätzen, dass 60 bis 90 Prozent der Sexarbeiter:innen, die in dem jeweiligen Land tätig sind, Opfer von Menschenhandel sind. Aus der Studie geht hervor, dass der Menschenhandel in Europa die sexuelle Ausbeutung, vor allem von Frauen und Mädchen, zum Ziel hat. Die Studie von Melissa Farley ergab, dass Frauen in der Prostitution mehrheitlich schwere Formen von Gewalt, darunter sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, erleiden. Zudem ist das Risiko der tödlichen Gewalt für diese Frauen höher.
Es gibt zwei verschiedene Systeme der Sexarbeit. Der abolitionistische Ansatz, besser bekannt als das „Nordische Modell“, wurde zuerst in Schweden eingeführt. Das Land fokussiert sich auf die Abschaffung der Prostitution und stellt alle mit Prostitution in Zusammenhang stehenden Handlungen unter Strafe. Dabei wird die Nachfrage und nicht die Prostitution selbst strafrechtlich verfolgt. Laut der EU-Studie scheint diese Maßnahme nach offiziellen Einschätzungen dazu geführt zu haben, dass die Nachfrage zurückgegangen ist und Menschenhändler abgeschreckt wurden. Abolitionisten sind der Meinung, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt und die Prostitution deshalb keine Unterstützung als legitimes Geschäft erfahren dürfe. Der regulatorische Ansatz, der in Deutschland gilt, wird deshalb stark kritisiert. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die mit der Legalisierung der Prostitution erhoffte gesellschaftliche Anerkennung und der Schutz vor Ausbeutung ausbleiben. Daran ändert auch das Prostitutionsschutzgesetz von 2017 nichts. Die Studie „Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking?“ vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung von 2012 ergab, dass Länder, in denen Prostitution legal ist, mehr Menschenhandel vorweisen. Aus der EU-Studie geht hervor, dass es bei den Arbeitsbedingungen von Prostituierten und dem Ausmaß der Gewalt seit der Legalisierung laut Regierungsberichten keine Verbesserungen gegeben hat.
Diesen Befunden zum Trotz steht eine repräsentative Umfrage eines erotischen Onlineportals von August diesen Jahres zum Meinungsbild Deutschlands über Sexarbeit. Demnach sehen 77 Prozent der befragten Personen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren Sexarbeit als Teil der Gesellschaft. Jede:r siebte der Befragten hat schon einmal die Dienste eine:r Sexarbeiter:in in Anspruch genommen.
In den Medien gibt es zudem viele Stimmen von Frauen, die in der Prostitution tätig sind und sich gegen das „Nordische Modell“ positionieren. Die Sexarbeit erlaubt es ihnen, selbstbestimmt und flexibel zu arbeiten. Laut Expert:innen handelt es sich hierbei um eine Minderheit, die vor allem im Domina- oder Escort-Bereich tätig ist und der überwältigenden Mehrheit von sehr jungen Armutsprostituierten, häufig mit Migrationshintergrund, in Deutschland gegenübersteht. Tatsächlich haben die meisten Frauen, die sich öffentlich für Prostitution einset- zen, einen deutschen Pass und leisten Sexarbeit selbstständig und legal.
Auch Nora Bretschi berichtet, dass viele Frauen, die die Beratungsstelle betreut, von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind. Einige berichten, schon als Minderjährige angefangen zu haben, in der Prostitution zu arbeiten.
Die Beratungsstelle „Anna“ verfügt über ein gutes Netzwerk zwischen der Stadt Heidelberg, dem Gesundheits-, Ordnungs- und Finanzamt, dem Frauennotruf, anderen Beratungsstellen und der Polizei. Dieses Netz ist wichtig, da sich die verschiedenen Akteure miteinander im Austausch befinden, aufeinander verweisen und somit den Frauen mit unterschiedlichen Problemen helfen können.
Wenn Frauen der Beratungsstelle also Verbrechen melden, klärt diese sie, wenn nötig, über das Rechtssystem und die Möglichkeit, zur Polizei zu gehen, auf. Anzeige erstatten können aber nur die Betroffenen selbst. Sollten sie sich zu diesem Schritt entschließen, würde die Beratungsstelle sie begleiten. Neben der Vernetzung auf Stadtebene ist „Anna“ auch Mitglied im Landesnetzwerk für Fachberatungsstellen für Menschen in der Prostitution Baden-Württemberg. Nora Bretschi sieht den Staat besonders darin gefordert, ein flächendeckendes Beratungssystem in Deutschland einzuführen und mehr finanzielle Unterstützung für Beratungsstellen zu leisten. Hilfe und Unterstützung wie in Heidelberg sollte bundesweit verfügbar sein.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung der Gesellschaft. In Heidelberg war vielen Menschen anfänglich gar nicht bewusst, dass es Prostitution überhaupt gibt. Um zu verhindern, dass Personen Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution werden, muss über die verschiedenen Taktiken der Menschenhändler:innen aufgeklärt werden.
„Wir planen, nächstes Jahr zusammen mit dem Frauennotruf Heidelberg an Schulen zu gehen und über die Loverboy-Methode aufzuklären“, so Nora Bretschi. Loverboys sind vor allem Männer, die häufig Minderjährige durch das Vorspielen einer Beziehung und durch eine emotionale Abhängigkeit dazu zwingen, in die Prostitution einzusteigen. Aber auch Jungen können Opfer dieser Methode werden. Neben Jugendlichen sollen auch Angehörige, Lehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen über diese Taktiken aufgeklärt werden, um sie früh genug zu erkennen.
Außerdem darf Prostitution in der Gesellschaft kein Tabuthema mehr sein. Die Menschen müssen sich für das Thema sensibilisieren. Die Stigmatisierung, die zurzeit noch in unserer Gesellschaft bezüglich der Prostitution herrscht, stellt nicht nur eine psychische Belastung für die Betroffenen dar, sondern macht einen Ausstieg und Neuanfang sehr viel schwieriger.
Neben der freien Sexarbeit gibt es eine große Dunkelziffer ausbeuterischer Prostitution. In erster Linie ist die Regierung dafür zuständig, den Menschenhandel und die sexuelle Ausbeutung stärker und effektiver zu bekämpfen, die vor allem Frauen und Mädchen betrifft. In Zukunft muss jedoch nicht nur der Staat das zurzeit greifende System der Prostitution ändern. Jede:r in unserer Gesellschaft ist gefragt, bei dem Thema Prostitution nicht länger die Augen zu verschließen.
von Lucie Bähre
Lucie Bähre studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich. Sie kann sich für alle Themengebiete begeistern, interessiert sich aber am meisten für den gesellschaftspolitischen Bereich. Seit 2021 schreibt sie für den ruprecht und leitet seit 2022 Seite 1-3.