Eigentlich steht Manuel Sosnowski hinter der Kamera: An der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg studierte er Montage/Schnitt, seitdem arbeitet er als Editor und Grip in der Filmbranche. Doch für „Mein fremdes Land“ (D, 2021) wagt er den Wechsel vor die Linse. Unter der Regie von Johannes Preuß und Marius Brüning avanciert er selbst zur Hauptfigur.
Geboren wird José Noé Estrada, wie Sosnowski damals noch hieß, in dem entlegenen bolivianischen Dorf Yawisla. Seine deutschen Adoptiveltern holen ihn aus einem nahegelegenen Kinderheim. Wie der Film mit exemplarischen Kindheitsaufnahmen dokumentiert, wächst Sosnowski daraufhin im baden-württembergischen Mössingen auf. Auf der Suche nach seiner Herkunft, wagt er 30 Jahre später die Rückkehr in sein Geburtsland.
Die einführenden Filmszenen, die Sosnowski in seinem Elternhaus in Deutschland und bei der Reisevorbereitung zeigen, wirken noch etwas gestellt. Teilweise scheinen die Gefilmten von der Anwesenheit der Kamera beeinflusst zu sein. Sosnowskis Voiceover verstärkt diese Wirkung. Spätestens die ersten Szenen in Bolivien, wo der Großteil des Films spielt, zeigen aber, warum die Jury des Baden-Württembergischen Filmpreises die Dokumentation für ihre „hohe Authentizität“ lobte und auszeichnete.
Sosnowski erkennt sich in den Kindern wieder
Oberflächlich gesehen scheint sich Sosnowski schnell in die bolivianische Lebenswelt einzufügen. Anders als in seinem deutschen Herkunftsort, sticht er nicht mehr aufgrund seiner Hautfarbe hervor. Doch gleichzeitig spricht er weder Spanisch noch das indigene Quechua. Bolivien ist damit zwar irgendwie „sein“ Land, wie der Filmtitel andeutet, und doch ist es „fremd“. Auf seine mehrsprachigen Begleiter:innen, den heiteren Diego und die warmherzige Lourdes, bleibt Sosnowski voll angewiesen.
Als er ein Kinderheim besucht, in der Nähe des Heims, aus dem er selbst vor 30 Jahren geholt wurde, scheint er sich in den dort lebenden Kindern wiederzuerkennen. In den Minen von Potosí, der nächsten größeren Stadt, wird ihm klar, dass er es sein könnte, der dort unter katastrophalen Arbeitsbedingungen schuftet. Und als er nach Jahrzehnten ohne Kontakt schließlich auf seine leiblichen Verwandten trifft, kennen die Emotionen keine Grenzen mehr. Was die Kamera in Bolivien aus erster Hand einfängt, ist durchweg berührend – oft genug gar herzzerreißend.
Bei der Sondervorstellung im Gloria am 26. Juni 2022 ist der Protagonist vor Ort. Nachdem der Film lief, beantwortet er die Fragen der Zuschauer:innen. Zurückhaltend und aufmerksam führt Tillmann Steinhilber, einer der Geschäftsführer der Heidelberger Programmkinos, durch das Gespräch. Sosnowskis Adoptiveltern sind anwesend, außerdem einige weitere Personen, die als Kinder aus Bolivien adoptiert wurden.
Wie sehr Sosnowski die 2019 angetretene Reise in sein Geburtsland drei Jahre später noch immer berührt, wird schnell deutlich. Als er versucht, sein Konzept von „Heimat“ auszudrücken, ringt er sichtlich mit sich. Es geht um die Menschen, weniger um die Orte, das scheint ihm klargeworden zu sein. Nach Bolivien hält er den Kontakt, auch wenn es bisher bei einem einmaligen Aufenthalt blieb.
Letztlich entwachsen Sosnowskis Reise nicht nur Antworten, sondern auch neue Fragen. Nicht alle Geschwister sind ausfindig zu machen, Informationsquellen widersprechen sich. Und auch „Mein fremdes Land“ liefert keine vorgekochte Antwort darauf, was „Heimat“, „Familie“, „Identität“ bedeuten. Doch stellt sich der Film trotzdem mutig diesen Fragen und erlaubt unverfälschte, oft hochemotionale und in jedem Fall sehenswerte Einblicke.
Hinweis: „Mein fremdes Land“ ist noch für einige Zeit im Heidelberger Programmkino Gloriette zu sehen.
Linus Lanfermann-Baumann studiert Geschichte im Master und schreibt seit 2022 für den ruprecht. Er interessiert sich für Vergangenes und Gegenwärtiges im Kino, in der Literatur, in Heidelberg und in den USA.