Inmitten der vielen Bars und Kneipen findet man in der Unteren auch ein kleines venezolanisches Café mit Kaffeerösterei. Die Besitzer Daisy Schwartz und ihr Sohn Raphael Pulgar Schwartz lebten lange Zeit in Venezuela und sind vor einigen Jahren wegen der schlechten politischen und wirtschaftlichen Situation nach Heidelberg gekommen. Hier betreiben sie zusammen mit Daisys Ehemann das Café Rada.
Im Alter von vierzehn, im Jahre 1972, kam Daisy mit ihren Eltern nach Venezuela, die dort eine Stahlfabrik aufgebaut haben. Während ihres Studiums der Steuerberatung fing sie an, bei der deutschen Botschaft zu arbeiten, wo sie sich im Laufe von 40 Jahren hocharbeitete.
Laut ihrem Sohn Raphael begann der wirtschaftliche Abstieg des Landes mit der Machtübernahme von Hugo Chávez. Dieser habe funktionierende Unternehmen verstaatlicht, wodurch es zu einer Reihe von Problemen wie Produktionsausfällen kam. An den Demonstrationen gegen den Staat nahm Raphael „fast immer“ teil. Manchmal wurden die Demonstrationen zugelassen. Oft aber verhafteten sie wahllos Demonstrant:innen, verwendeten Tränengas oder schossen von Hochhäusern. Aufgrund des mangelnden Erfolgs der Demonstrationen und der zunehmenden staatlichen Gewalt verlor Raphael zunehmend die Hoffnung in die Proteste.
Daisy nahm seltener an den Demonstrationen teil, da sie befürchtete, ihren Job in der Botschaft zu verlieren. Bei Fragen nach der politischen Lage verweist sie oft an ihren Sohn. Laut Raphael wurden in den staatlichen Medien über die Proteste meist nicht berichtet. Er erzählt, dass häufig, während direkt vor seiner Haustür Demonstrationen stattfanden, im Fernsehen nur Telenovelas, lateinamerikanische Seifenopern zu sehen waren.
Auch die allgemeine Versorgungslage war schlecht, oft fiel in ihrer Wohnung Strom und Wasser aus. In den Supermärkten gab es häufig nichts zu kaufen, außerdem durfte man je nach Personalausweisnummer nur an bestimmten Tagen einkaufen. Raphael sagte über die alltägliche Lebensmittelknappheit: „Ich wollte am Dienstag ein Kilo Mehl kaufen, aber es gab kein Mehl, nur einen Liter Öl. Also habe ich das gekauft, da das auch irgendwann mal gebraucht werden würde.“ Vor 18 Jahren kam es zu einer versuchten Entführung von Daisys Tochter. Raphael vermutete eine Verbindung zwischen dem Ereignis und der Tatsache, dass sein Vater zur selben Zeit Probleme mit dem Bürgermeister wegen einer Geschäftsangelegenheit hatte. Dazu merkt Raphael an: „Leider ist es in Venezuela so, dass wenn man im Konflikt mit gewissen Personen ist, Gefahr läuft, umgebracht zu werden.“ Auch Daisy kommentiert die Kriminalität im Lande: „Umso schlechter es den Menschen geht, umso eher greifen sie zu kriminellen Taten, um Geld zu bekommen.“ Gleichzeitig ist laut Daisy der Staat in weiten Teilen korrupt und unterstützt oft kriminelle Tätigkeiten.
Nach der versuchten Entführung kam die Tochter über ein Au-pair-Programm nach Heidelberg, wo sie auch dauerhaft blieb. Für die Familie war dies damals die einzige bezahlbare Möglichkeit, um der Tochter ein Entkommen aus dem Land zu ermöglichen.
Auch Raphael zog vor dreizehn Jahren, nachdem er keinen Studienplatz an der staatlichen Universität erhalten hatte zu seiner Schwester nach Heidelberg. Das Ankommen in Deutschland fiel Raphael schwer. Als auch die angestrebten Studiumspläne in Deutschland scheiterten, entschloss er sich, doch wieder nach Venezuela zurückzukehren.
Nachdem er dort in einen Konflikt mit der Armee geraten war und nur unter Beschuss fliehen konnte, entschied sich Raphael endgültig nach Deutschland auszuwandern, um weiterer Verfolgung zu entgehen. Auch Daisy kam 2016 nach Heidelberg, wo sie jetzt zusammen mit ihrem Sohn und Ehemann das Café Rada betreibt.
Die jetzige politische Lage und die Aussicht auf positive Entwicklungen beurteilt Raphael eher pessimistisch: „Wenn heute Maduro fällt, dann braucht es extrem viele Jahre um das Land wieder hochzubringen. Die Leute sind es gewöhnt, dass man vieles geschenkt bekommt, dass Kriminalität und Korruption normal geworden sind.“
Seiner Meinung nach besteht in Venezuela ein sehr großer Investitionsbedarf. Vor allem in den Bereichen der Bildung und Kultur. Früher sei das Land sehr respektvoll und offen gewesen.
Jetzt hätten die Menschen in Venezuela allerdings Angst. Vor allem Angst durch die Preisgabe von Information ausgeraubt oder entführt zu werden.
Frederik Kolb studiert Physik und schreibt seit dem SoSe 22 für den ruprecht über diverse interessante Themen, wie Migration oder Missstände in der Uniarchitektur