Ein Blick auf die Klausur und Mira* bricht in Tränen aus. Trotz wochenlangem Büffeln folgt oft eine vernichtende Klausurkorrektur, die nicht konstruktiv kritisiert, sondern persönlich wird. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit, das wie Mira viele Jurastudierende kennen.
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ie Tür der WG fällt knallend ins Schloss. Durch die dünnen Wände der Altbauwohnung hört man, wie Mira* ihre Tasche in die Ecke schmettert. Die Jurabücher darin klatschen laut gegen die Wand. „Das ist so, so unfair“, ruft sie und rauft sich durch die hüftlangen Haare. Heute hat sie ihre Klausur zurückbekommen.
„Ich habe schon wieder diesen schlimmen Korrektor“, sagt Mira und lässt sich auf einen Stuhl in der Küche fallen. „Der Korrektor, der jeden richtig schlecht bewertet. Ich glaube, seine Notenskala hört bei 9 Punkten auf.“ Ihre Wangen sind von der Aufregung noch ein wenig gerötet. Eine ungerecht empfundene Bewertung ist für die Jurastudentin nichts Neues. „Ich wollte mir die Klausur bei der Rückgabe gar nicht erst anschauen, sie schnell in meiner Tasche verschwinden lassen. Dann ist mir die Schrift auf dem Rückblatt aufgefallen“, erzählt sie und stützt ihr Gesicht dabei in den Händen ab. „Ich wusste, es ist wieder er. Ich habe sofort angefangen zu weinen“. Sie schaudert.
Nachvollziehen kann sie die Korrektur nicht. „In seiner Bewertung sind nur Haken und ein einziger Kritikpunkt, der aber so gering ist, dass er die Note nicht rechtfertigen kann“. Miras Hand, die eben noch ihr Gesicht gestützt hat, knallt nun auf den Tisch. „Ich kann noch nicht einmal remonstrieren.“
Viele empfinden Kritik als persönliche Beleidigung
Für eine erfolgreiche Zweitkorrekur, genannt Remonstration, müssen die Betroffenen darlegen können, dass die Erstkorrektur fehlerhaft ist. Ohne konstruktives Feedback ist die Angriffsfläche meist klein. „Das ist so unkonkret, da kann man nichts machen. Die Korrektor:innen können die Notenskala setzen wie sie wollen, man ist ihnen ausgeliefert. Alle meine Noten und mein Erfolg im Studium liegen an der subjektiven Einschätzung einer Person“, resümiert Mira. Selbst bei einer Remonstration geht die Zweitkorrektur wieder an den-/dieselbe Korrektor:in zurück.
Ihre Mitbewohnerin Sarah*, die von dem Lärm in der Küche aufgeschreckt wurde, kennt das Gefühl gut. Sie studiert auch Jura. „Richtig häufig steht über Seiten nur eine riesige Linie am Rande mit „falsch!“ oder „nein!“ oder „unnötig!“. Teilweise sind die Korrekturen kurz und nach Schema, obwohl eine Jura-Klausur subjektiv und umfangreich ist. Das kann der Leistung gar nicht gerecht werden“, sagt sie. Die Examenskandidatin weiß, wie sehr eine unfaire Korrektur am Selbstwertgefühl nagen kann.
Eine besonders harsche Korrektur verfolgt sie bis heute. „Bei meiner schlimmsten Bewertung stand in der Überschrift „eine im Großen und Ganzen unbrauchbare Leistung mit erheblichen Mängeln“, erinnert sie sich und schüttelt dabei leicht den Kopf. Eine Kritik, die sie nicht als sachlich, sondern als persönliche Beleidigung empfindet. „Ich hatte das Gefühl, dass mir der Korrektor vorgeworfen hat, ich hätte gewisse Sachen absichtlich nicht gesehen oder falsch gelöst. So nach dem Motto: So hättest du die Arbeit erst gar nicht abgeben müssen“, sagt sie. Ihre Stimme ist leiser als Miras. Anstatt zu gestikulieren, hängen ihre Schultern schlaff nach unten. Der Vorfall beeinflusst seitdem auch ihre Examensvorbereitung. „Ich habe jedes Mal Angst, dass er mich wieder korrigieren könnte. Oft frage ich mich, ob ich gut genug bin, um eine Klausur abgeben zu können.“
Von Lina Abraham
*Namen von der Redaktion geändert
Benjamin* korrigiert seit einem knappen Jahr juristische Klausuren und Hausarbeiten der Uni Heidelberg. Im Gespräch macht er Verbesserungsvorschläge
Jura ist bekannt für seine schlechten Noten. Woran liegt das?
Es gibt viele Dinge, die man gleichzeitig bedenken muss – zum Beispiel den Gutachtenstil und verschiedene Prinzipien. Da schreibt man schnell an der Klausur vorbei. Das verunsichert viele, da sie mit Bestnoten von der Schule kommen. In Jura gehört man aber schon mit neun von 18 Punkten zu den Besten.
Viele Studierende sehen den Grund bei den strengen Korrektor:innen.
Es gibt definitiv Leute, die streng korrigieren. Die Frage ist, ob das immer böse gemeint ist. Ich glaube, dass es besser ist, wenn man im zweiten oder dritten Semester gesagt bekommt: Das reicht noch nicht, du musst mehr tun. Das kann dann ein Aufrütteln sein.
Das funktioniert aber nur, wenn die Korrektur verständlich begründet ist. Es gibt Berichte von wenigen Häkchen und einer sehr knappen Schlussbemerkung.
Der Klassiker ist eine unkommentierte Wellenlinie am Rand, bei der man denkt: Was heißt das jetzt? Eine ausführliche Begründung der Korrekturen gehört natürlich dazu.
Da besteht die Gefahr, dass die Korrekturen subjektiv und nicht vergleichbar sind. Ist das nicht ungerecht?
Chancengleichheit ist ein Problem. Gleichwertige Arbeiten bekommen nicht immer die gleiche Note. Aber: Jura ist nicht Mathe. Häufig ist mehr als eine Argumentation möglich, die ich als Korrektor gewichten muss. Das Gleiche gilt für Fehler.
Welche Vorgaben machen da die Professor:innen? Die könnten das doch festlegen.
Machen sie auch. Für jede Arbeit gibt es eine Lösungsskizze. Dort steht aber nur sehr selten, wie viele Punkte einzelne Teile wert sind. Fehler oder andere Lösungswege muss ich selbst bewerten. Lösungsskizzen mit Gewichtung würden das verbessern.
Könnte ein:e Korrektor:in andere Schwerpunkte als ein:e Professor:in in der Klausurbesprechung setzen?
Auf jeden Fall! Wenn die Lösungsskizze nicht gewichtet ist, bleibt leider viel Raum für Subjektivität.
Werden deine korrigierten Klausuren noch einmal überprüft, bevor sie an die Studierenden gegeben werden?
Bei mir gab es bisher nur einmal Änderungswünsche des Lehrstuhls. Ich glaube aber, dass allgemein nur bei besonders guten oder schlechten Bewertungen geprüft wird. Für eine flächendeckende Kontrolle fehlt wahrscheinlich das Personal.
Wie kann ich mir dann sicher sein, dass ein:e Korrektor:in sein Handwerk beherrscht?
Die Korrektoren sind ziemlich auf sich allein gestellt, man kennt sich nicht untereinander. Neulingen wird nicht gesagt, worauf sie achten sollen. Da wird man ins kalte Wasser geworfen. Ich denke, dass es sinnvoll wäre, alle neuen Korrektoren in einem kurzen Workshop einzuarbeiten. Außerdem sollten die ersten Korrekturen nachkorrigiert werden.
Eine Nachkorrektur können auch die Studierenden einfordern. Das nennt man dann Remonstration. Geht die Klausur dann an dich zurück?
Ich musste bisher noch nie meine eigenen Klausuren nachkorrigieren, sondern immer die von anderen Korrektoren. Manche gehen aber auch direkt zum Korrektor zurück, das ist natürlich wenig sinnvoll. Wie häufig das passiert, weiß ich aber nicht.
Wann würdest du empfehlen zu remonstrieren?
Wenn ich das Gefühl habe, dass ich das gebracht habe, was verlangt wurde, meine Korrektur aber im Stil „Wellenlinie, Wellenlinie, Häkchen – vier Punkte“ verfasst ist.
Andererseits könnte sich die Note nach einer Remonstration auch verschlechtern.
Ich bin noch nicht lange dabei, habe aber noch keine einzige remonstrierte Klausur nach unten korrigiert. Die Begründung ist der springende Punkt. Es reicht nicht, um eine bessere Note zu bitten. Deshalb ist es wichtig, zur Klausurbesprechung zu gehen.
Werden Remonstrationen bezahlt?
Nein, die sind in der Bezahlung pro Klausur oder Hausarbeit mit inbegriffen.
Wie gut ist die Bezahlung?
Man wird pro Klausur oder Hausarbeit bezahlt. Ich finde die Bezahlung okay. Aber es ist klar, dass der Stundenlohn sich verbessert, wenn man schneller korrigiert. Darunter leidet dann die Qualität der Korrektur.
Interview: Thomas Degkwitz
* Name von der Redaktion geändert
Jan Schuhr ist Studiendekan und Professor für Strafrecht an der juristischen Fakultät in Heidelberg. Schuhr versteht die Aufregung nicht. Im Großen und Ganzen sei man zufrieden. Schuhr meint: „Viele haben zu diesem Thema leider sehr vorgefertigte Meinungen.“
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on der allzu großen Fixierung auf Noten hält Schuhr in den ersten Semestern wenig, im Wesentlichen gehe es in dieser Zeit um gutes Feedback und erste Praxis. Studierende müssten lernen, eine Klausur zu schreiben, am wichtigsten sei schlicht und ergreifend die Übung. Er bedient sich des Klassikers unter den Jura-Metaphern: „So wie der Chirurg sein Skalpell, so muss der Jurist seine Argumentationstechnik beherrschen lernen.“ Reine Theorie sei das eben nicht, jede:r müsse seine eigenen Erfahrungen machen.
Die Organisation des Korrekturverfahrens der Klausuren und Hausarbeiten möchte er deshalb nicht auf die Goldwaage legen. Die Mittel der Fakultät seien knapp bemessen, die Einarbeitungspauschale erprobe man aber konzeptionell. Die schwierige Suche nach Korrektor:innen spiele der Fakultät nicht in die Karten.
Maximale Objektivität bei den Korrekturen und den Lösungsskizzen der Lehrstühle könne aber auch nicht das Ziel sein. Keine juristische Argumentation gleiche der anderen. Vermeintlich präzise Lösungsskizzen suggerierten eine Vergleichbarkeit, die in der Praxis nie gegeben sein könne. Übergenaue Lösungsschemata verhinderten, dass Korrektor:innen auf individuelle Leistungen eingingen und diese ernst nähmen.
Maximale Objektivität kann nicht das Ziel sein
Es solle somit den Korrektor:innen überlassen bleiben, sich eigene Gedanken zu machen und die Schwerpunktsetzung einer Arbeit zu erkennen. Vom ruprecht befragte Korrektor:innen hatten sich hingegen präzisere Lösungsskizzen gewünscht.
Schuhr erkennt diesen Widerspruch, möchte die Verantwortung aber in den Händen der Korrektor:innen belassen. Diese seien im Wesentlichen sehr gut für ihre Aufgaben qualifiziert; größere Punktabweichungen seien selten.
Dass mit den Korrektor:innen alles steht und fällt, wird aber wiederholt deutlich. Denn Remonstrationen leite man regelmäßig an die ursprünglichen Korrektor:innen weiter, es gehe schließlich auch um deren Lernkurve. Schuhr versichert aber: „Meine engsten Mitarbeiter schauen dann nochmal drüber.” In Stichproben überprüfe man außerdem die Arbeit aller Korrektor:innen.
Bedauernd steht er der großen Bedeutung von Noten für Studierende in den ersten Semestern gegenüber. Zwar seien diese wichtig für Stipendien, Auslandsaufenthalte und Praktika. „Übergroßer Leistungsdruck und ausgeprägtes Konkurrenzdenken unter den Studierenden führen aber zu nichts“, sagt Schuhr.
Die Noten seien in Ermangelung eines besseren Kriteriums wichtig, sollten jedoch möglichst als ein guter Rat verstanden werden. Persönliches Wachstum und das Studium als Zeit des Lebens und Lernens blieben das Wichtigste, meint Schuhr. „Ich rate deshalb zu Gelassenheit.“
Von Vincent Vogel
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.
Thomas Degkwitz will seit 2019 die Netzwerke der Stadt verstehen. Das hat er für zwei Jahre auch als Ressortleiter “Heidelberg” versucht. Ihm ist das Thema Studentenverbindungen zugelaufen, seitdem kümmert er sich darum. Außerdem brennt er für größere Projekte wie die Recherche zur Ungerechtigkeit im Jurastudium. Lieblingsstadtteil: die grünflächige Bahnstadt (*Spaß*)