Benjamin von Stuckrad-Barre ließt aus seinem neuen Roman „Noch wach?“ Über Angst, Machtmissbrauch und seinen Sohn
Mittwochabend 20:06 Uhr, der neue Karlstorbahnhof in der Südstadt ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Die Menge wartet ungeduldig auf ihn. Er lässt sich Zeit. Er weiß, wer er ist. Im nächsten Augenblick stürmt er mit Elan auf die Bühne, springt, hebt ab, ist abgehoben? Er landet nach extravaganten Handbewegungen und provoziert tobendem Beifall auf seinem Stuhl in der Mitte der Bühne. „Moin! Schön, dass ihr da seid“, begrüßt Benjamin von Stuckrad-Barre sein Publikum. Schnell zündet er sich eine Zigarette an. Wer wolle, dürfe sich zum Rauchen zu ihm auf die Bühne setzen. Die Rahmenbedingungen werden klar kommuniziert. Zwei Stunden soll die Veranstaltung gehen, keine Pause, bei Langeweile bitte melden.
Während Heidelberg in den Himmel gelobt wird, erlangen Ingolstadt und Regensburg, wo ebenfalls Lesungen stattfinden, weniger Sympathie. „Die Städte wurden von meinem Therapeuten eingeplant, damit ich nicht völlig ausflippe“, erklärt er. Dort wurden bis jetzt am wenigsten Tickets verkauft. Für Stuckrad-Barre ist die Rechnung klar: Anzahl der verkauften Tickets ist gleich Liebe. Heidelberg kenne er schon gut von seinen Klinikaufenthalten, er liebe die Stadt. Bei der Eisdiele „Gelato to go“ sei er schon gewesen. Genauso wie im alten Karlstorbahnhof, wohin er sich zuvor verirrt habe.
Benjamin von Stuckrad-Barre, 47 Jahre alt, Sohn eines Pastors, ist deutscher Schriftsteller und Journalist. In seinem letzten Erfolgsroman „Panikherz“ verarbeitete er seine Drogensucht. Jetzt erschien sein neuestes Buch: „Noch wach?“. Nachdem er sein Werk erst als erfrischendes Corona-Tagebuch, „psychologisch unheimlich dicht“ und dann als Liebesdrama vorstellt, indem ein „süßer Boy“ unheilbar krank wird, aber bitte noch einmal das Meer sehen möchte, gelingt im dritten Anlauf der Einstieg. Wie an diesem Abend noch öfter betont, seien im Roman beschriebene Vorgänge und Personen vollständig erfunden. „Das soll ich Ihnen sagen, sagt ein Freund, der Jura studiert hat”, meint er verschmitzt.
Im Roman berichtet Stuckrad-Barre, als „fiktiver Ich-Erzähler“ getarnt, von Gesprächen mit verschiedenen Mitarbeiterinnen, die sexuelle Übergriffe durch den Chefredakteur einer Boulevardzeitung in Berlin erlebt haben. Junge Frauen, welche im Chefredakteur den nötigen Halt in der sonst rauen Reaktionsatmosphäre fanden. Während ihre Beziehung immer enger wurde, distanzierte sich das Umfeld.
Das Angebot mit ihm auf der Bühne zu rauchen, nimmt keiner an. Stuckrad-Barre kommentiert: „Naja, ich bin ja auch super seltsam, aber nicht gefährlich, nur zu mir selbst. Da ist auch viel Unsicherheit dabei… Also weiter im Text.“
Sophie, ebenfalls Mitarbeiterin in der Redaktion und von den Übergriffen betroffen, fällt durch ihre nüchterne Betrachtungsweise auf. In einer von Sexismus geprägten Gesellschaft sei es das Geringste beim Verkabeln für die Abendshow im Fernsehen begrapscht zu werden. Sie ist sich über den Einsatz ihres Äußeren bewusst. Um zur Primetime moderieren zu dürfen frisiert sie ihre Haare wie aus der Chefetage gefordert. „Als Frau haben wir immer Nachteile, jetzt haben wir einmal einen Vorteil, diesen muss man nutzen.“ Doch auch Sophie fühlt sich zunehmend in die Ecke gedrängt und fürchtet um sich und ihren Job.
Sein Buch, das bereits ausführlich in den Medien diskutiert und teils kritisiert wurde, sei kein Debattenbeitrag, sondern ein Roman. Dennoch ist die Parallele zur Springer-Affäre deutlich. Kein Wunder, wenn sich nun Figuren aus dem Buch bei ihm melden würden, so der Autor. Doch dies sei der Vorteil an der Kunst: „Man wirft zuerst.“ Wenn alle irgendetwas meinen würden, sei er schon wieder weg. In der echten Welt wurde bis heute kein rechtskräftiges Urteil gesprochen, stattdessen fällen nun Millionen von Leser:innen ihr eigenes Urteil.
Im Roman und auch in der Wirklichkeit wird der übergriffige Chefredakteur vorerst vom Verlagschef geschützt. Der rechtsorientierte Verlagschef ist wiederum mit dem „fiktiven Ich-Erzähler“ befreundet. Er vertrete zwar rechtsradikale Ansichten, mögen tue er ihn trotzdem. Zumindest zu Beginn, am Ende des Romans ist von „Ex-Freund“ die Rede. Die Personen werden vielschichtig beschrieben, wobei sich gegensätzliche Eigenschaften in einem Charakter vereinen. Es ist wie in Stuckrad-Barres neuer Uhr, deren Zifferblatt schwarz-weiß gestreift ist. Unpraktisch zum Lesen der Uhrzeit, meint er. So ist es eben den ganzen Abend lang 6 Uhr.
Als stolzer Vater ist immer wieder von seinem Sohn Jonny, mittlerweile zehn Jahre alt, die Rede. Seitdem er nicht nur von Bagger, Auto und Oma sprach, sondern eines Tages sagte: „Mir gehts nicht gut, ich muss mich hinlegen“, nehme er ihn als Mensch wahr.
Stuckrad-Barre stellt wiederholt Fragen an die Audienz, „aus menschlichem Interesse.“ Am Ende freue er sich Fotos zu machen, mit so tollen Menschen. Menschen scheinen ihn zu begeistern, genauso wie er sie fürchtet. „Wer schlau ist hat auch Angst,“ ist ebenfalls ein Zitat seines Sohnes.
Stuckrad-Barre breitete über den Abend verteilt eine Palette an Charakterzügen und Emotionen aus, unmöglich ganz zu greifen, schwierig anzugreifen, doch ergreifend. Es ist 6 Uhr. Nach zwei Stunden großer Unterhaltung und lautem Applaus tritt er von der Bühne ab. Nochmal zurück kommt er nicht, die Angst vor einem leeren Saal scheinbar zu groß.
Von Anabelle Kachel
Anabelle Kachel studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2021 für den „ruprecht“. Während im Studium die funktionellen Zusammenhänge des menschlichen Körpers im Vordergrund stehen, fasziniert sie bei ihrer Arbeit als Redakteurin der Mensch in seiner Gesamtheit. Besonders gerne tritt sie direkt mit den Menschen in Kontakt und interessiert sich für Einblicke in ihre Lebensrealitäten und Ansichten. So führte sie zahlreiche Interviews, zum Beispiel mit dem Comedian Florian Schroeder oder dem Lokalpolitiker Sören Michelsburg.