Felix von Müller studiert Jura in Heidelberg. Aus einer Bekanntschaft mit dem Kommilitonen Max Lossow wird schnell eine leidenschaftliche Romanze. Eine ganz normale Geschichte, spielte sie nicht im Jahr 1877
Aus Felix’ Tagebuch:
27. Juli. Lossow und ich entfliehen beim allgemeinen Aufbruch links um die Ecke und kommen con amore auf Schloß und Terasse. Das Langentbehrte wird endlich nachgeholt!
Was das Langentbehrte sein könnte? Diese Geschichte erzählt das Buch „Ein Jahr im Leben von Felix von Müller“ von Sebastian Kuboth. Es basiert auf dem Tagebuch des Studenten Felix von Müller: Zwei Männer verlieren ihr Herz in Heidelberg, und das zu einer Zeit, als Homosexualität noch mit Gefängnis bestraft wurde. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft reden sich die Jurastudenten noch mit ihren Nachnamen Müller und Lossow an. Felix kommt zum Wintersemester 1877 aus Berlin nach Heidelberg. Die Planungen dafür laufen schon im Frühjahr 1877. Im Tagebuch berichtet Felix von einem Festessen:
26. Februar. Um 4 1/2 Uhr zu Stumms auf den Kaiserhof. Herr von Ammon und Herr Vapelius essen mit. Es kommt die Rede auf Heidelberg; man will mich zu den „Vandalen“ oder „Westphalen“ thun!
Felix wird später bei der Verbindung „Guestphalia“ unterkommen, diese existiert mit der „Vandalia“ bis heute. In alter Verbindungstradition widmet sich Felix dem steten Biertrinken. Mehrmals pro Woche geht er außerdem zum Fechten in das Neuenheimer Gasthaus Hirschgasse. In Verbindungskreisen lernen sich Felix und Max kennen. Felix notiert den Namen zum ersten Mal am 4. Juni 1877. Im Suff bieten sie sich am 12. Juli das Du an. Vier Tage später kommen sie einander näher.
16. Juli. Nach der Kneipe mit Lossow nach dem Karlsthor. Dort setzen wir uns auf eine Bank, führen ernste Gespräche und haben uns gern. Auf dem Rückweg setzen wir uns noch auf eine Mauer und zum Danke küssen wir uns vor seiner Thür.
Gefunden hat das Tagebuch Sebastian Kuboth. Der Autor sammelt Briefe und Tagebücher, die Aufzeichungen von Felix von Müller kaufte er 2018 bei einem Antiquitätenhändler. „Ich habe über eine Million Briefe und über 1000 Tagebücher in meinem Archiv“, berichtet Kuboth am Telefon. Als ihm auffällt, dass es nur wenig Informationen zu Homosexualität im 19. Jahrhundert gibt, beschließt er, das Tagebuch von Felix abzutippen. Weitere Informationen fand er im Familiennachlass. Die Romanze zwischen Felix und Max war zur damaligen Zeit illegal. 1871 eingeführt, ahndete der Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs „die widernatürliche Unzucht zwischen Menschen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren“ mit einer Gefängnisstrafe. Eine Bewegung für die Rechte und die Akzeptanz Homosexueller entstand erst um die Jahrhundertwende. Im Tagebuch beschreibt Felix keine expliziten Sexszenen. Allerdings will Sebastian Kuboth Hinweise zwischen den Zeilen gefunden haben.
23. Juli. Lossow und ich entspringen Butzen in eine Seitengasse und gehen auf die Neckarbrücke. Mondschein. Seydel und Hennig treffen uns. Wir entgehen ihnen und im traulichsten Gespräche: „Mein Mülly! Du Schleppst mich! Du pflegst mich, wenn ich im Korb liege. etc. etc. Kommen wir zu Lossow’s Wohnung, wo „Gute Nacht“ X! – Ich gehe beseligt nach Hause.
Das X taucht immer wieder in den Aufzeichnungen auf, manchmal – so Kuboth – sei es auch ein K. Vermutlich notiert Felix, wenn er und Max sich geküsst haben. Ob Felix glücklich über die Veröffentlichung seiner Intimitäten wäre? Sebastian Kuboth sieht eine gesellschaftlich relevante Botschaft in dem Tagebuch: „Homosexualität ist damals unter den Tisch gefallen“, sagt er. „Beim Lesen merkt man, wie Felix mit sich kämpft und hadert. Man spürt, wie unsicher er ist.“ Auch Max scheint sich für die Beziehung zu schämen, ist immer wieder zurückhaltend. Kuboth glaubt, dass sich viele Menschen auch heute noch mit dieser Unsicherheit identifizieren können.
30. Juli. Trübe Kneipe. Er verläßt uns mit Seydel früher wegen des morgigen Bestimmungstages ohne mir auch nur gute Nacht zu sagen. Hätte er meinen Ring nicht an der Hand, ich wäre in heller Verzweiflung.
Am 12. August verlässt Felix Heidelberg für den Militärdienst in Straßburg. In seinem Tagebuch schwärzt er nachträglich den Moment, als er sich von Max verabschieden muss. Er berichtet von seitenlangen Briefen, die er und Max sich von da an zuschicken. Manchmal vergehen Wochen, bis Max antwortet – kaum auszuhalten für Felix. Er vermisst Max sehr stark.
10. November. Meine Ödigkeit steigert sich bis zur Raserei; ich möchte Tisch und Stühle zusammenschlagen; Teller und Tassen den Leuten an den Kopf werfen, aufschreien und fluchen, – nur einmal mein Lösseken wiedersehen!
Erst im März 1878 werden sie sich wiedersehen, doch die Beziehung zu Max kann das nicht wiederbeleben. Es bleibt bei der kurzen Sommerliebe. Felix wird später deutscher Botschafter in den Niederlanden und arbeitet unter anderem für Reichskanzler Bernhard von Bülow. Max Lossow wird Beamter in Sachsen.
von Thomas Degkwitz
Thomas Degkwitz will seit 2019 die Netzwerke der Stadt verstehen. Das hat er für zwei Jahre auch als Ressortleiter “Heidelberg” versucht. Ihm ist das Thema Studentenverbindungen zugelaufen, seitdem kümmert er sich darum. Außerdem brennt er für größere Projekte wie die Recherche zur Ungerechtigkeit im Jurastudium. Lieblingsstadtteil: die grünflächige Bahnstadt (*Spaß*)