,,Du hast kein einziges Mal gesagt, das darfst du nicht zeigen, das will ich nicht. Warum?”, fragt eine Stimme aus dem Off.
,,Bro, also lügen? Nein, will ich nicht. […] Die Realität ist das.”
Was das ist, bekommt man in der Netflix-Dokumentation ,,Babo – Die Haftbefehl-Story” nur allzu deutlich gezeigt. Haftbefehl, mit bürgerlichem Namen Aykut Anhan, ist einer der größten Rapper Deutschlands. Die Dokumentation begleitet ihn, wenn er ins Studio geht, kompromisslose Texte schreibt, ins Mikrofon schreit, lacht und so lange re-recorded, bis alles perfekt ist. ,,Du weißt, dass es Haft ist”, wenn er auf Bühnen steht und Menschen aus ganz Deutschland zu einer homogenen Masse der Ekstase verschmelzen lässt. Moshpits, Lichter, Gegröle und dann Schnitt: Ein großes, modernes Haus bei Stuttgart, das Haftbefehl für sich und seine Familie hat bauen lassen. Ein Haus für eine Familie, die ihn kaum zu sehen bekommt. Er nimmt das Drehteam mit hinein und zeigt ihnen ein Bild von sich mit seinen Kindern. Dann deutet er auf sich und sagt: “[…] und das, das ist der Dreck.” Denn Aykut Anhan weiß, dass er zwar Baba Haft, aber kein guter Vater ist. Die Musik und seine Drogensucht halten ihn fern und selbst wenn er mal daheim ist, ist er nicht wirklich da. Nina, seine Frau, hält während all dieser Zeit trotzdem zu ihm – oder treffender formuliert: sie hält ihn zusammen – und kümmert sich um Haus und Kinder. In den Kommentarspalten von Instagram wird sie dafür von vielen Fans gefeiert. “Traumfrau” und “Das bedeutet eben: In guten wie in schlechten Zeiten” heißt es da. Doch was Nina erlebt, scheint eher Abhängigkeit als Liebe zu sein, eher traurige Akzeptanz als Hoffnung. Wo ,,Hafti” nicht funktioniert, muss sie es tun. In schlechten wie in schlechten Zeiten.
Und schlecht geht es Haftbefehl wirklich.
Die Dokumentation versucht, uns dafür eine Erklärung zu liefern: Seine Kindheit in einem Offenbacher Plattenbau, ein abwesender Vater, der zugleich Besitzer eines renommierten Spiellokals und selbst tief in der Spielsucht steckte. Eine geschauspielerte Reinszenierung zeigt den jungen Aykut, der es gerade rechtzeitig schafft, seinen Vater vor dem Suizid durch Strangulation zu retten. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf: Noch lange vor seiner Zeit als ,,Haftbefehl” entwickeln sich bei Anhan im Alter von gerade mal 13 Jahren die Anfänge jener Kokainabhängigkeit, die ihm einige Jahrzehnte später das Nasenscheidewand kosten wird.
Doch für die Doku ist Haftbefehl der perfekte Protagonist, denn er zeigt sich in seinen verletzlichsten Momenten und besteht darauf, jedes Tief filmisch begleiten zu lassen.
Zu einem besonders kritischen Zeitpunkt übernimmt er sogar selbst die Kamera und schickt das Team fort. Ein Novum. Trotzdem muss man sich für ein möglichst ganzheitliches Verständnis der Dokumentation daran erinnern, wer sie produziert hat. Letztlich handelt es sich bei dem Streaming-Anbieter Netflix um einen Wirtschaftskonzern, der Profit damit generiert, unterhaltsame Produkte zu liefern. Das, was Viele an Haftbefehls Plattenfirma Universal und allen Verantwortlichen um den Rapper kritisieren, nämlich, dass sofort hätte eingegriffen werden müssen, als klar war, wie schlecht es gesundheitlich um ihn stand, kann man den Machern der Dokumentation genauso vorwerfen. Der Zuschauer beobachtet das Schicksal und die transgenerationalen Traumata einer real existierenden Familie – cineastisch mitreißend aufgearbeitet. Die Dokumentation ist nicht nur deshalb kritisch zu betrachten, weil lediglich Interviewpartner:innen gezeigt werden, die in irgendeiner Form von Haftbefehl abhängig oder mit ihm befreundet sind. Auch tragen die Schauspielsequenzen und emotionalen Einblicke in private Videoaufnahmen seiner Kindheit dazu bei, dass Haftbefehl in gewisser Weise als tragischer Held aus der Geschichte hervorgeht.
Ja, es gibt einen Haftbefehl, der es raus aus dem Plattenbau geschafft und aus seinem Talent eine unglaubliche Karriere gemacht hat. In den meisten Fällen sind Armut und Abhängigkeit allerdings strukturelle Probleme und weder das Aufwachsen in finanziell prekären Umständen noch eine völlig verkokste Vertragsunterzeichnung sind in irgendeiner Form kultig, sondern besorgniserregend. Wir müssen das Narrativ eines “Genies”, dessen Leid konstitutiv für seine Kunst ist, endlich begraben, denn der Preis, den diese Künstler für ein bisschen Unterhaltung früher oder später bezahlen müssen, ist schlichtweg zu hoch.
Von Neeltje Cordes
...studiert im Bachelor Germanstik und Philosophie. Sie schreibt am liebsten über Kultur und Politik und all das, was Menschen bewegt.
...studiert Sonderpädagogik an der PH und wenn er mal wieder etwas zum Prokrastinieren braucht, schreibt er Artikel für den ruprecht.









