Können uns künstliche Intelligenzen bald unsere Entscheidungen abnehmen? Ein Interview mit Felix Rebitschek vom Harding Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam
Herr Rebitschek, als Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Harding Zentrums für Risikokompetenz der Universität Potsdam forschen und vermitteln Sie Ergebnisse, die Menschen helfen, Entscheidungen zu treffen. Womit befassen Sie sich aktuell?
Wir arbeiten zum Beispiel an der Frage, welche Informationen in einem ärztlichen Aufklärungsgespräch vermittelt werden müssen, damit sich Patient:innen für oder gegen einen Test zur Prognose einer Alzheimer-Erkrankung entscheiden können.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist der Vertrieb von vielen Tests sinnvoll, doch ob der Test auch für Patient:innen von Nutzen ist, bleibt fraglich. Was bringt das Wissen um die Krankheit ohne Therapieoption?
Im Alltag stehen wir stetig vor Entscheidungen. Welchen Kaffee kaufe ich oder mit wem will ich zusammen leben? Wie lässt sich Ihre Forschung auf diese Alltagsfragen anwenden?
Im Alltag begegnen wir meistens Fragen der Unsicherheit. Im Gegensatz zu Risikoabwägungen liegen uns hier kaum belastbare Informationen vor. Komplexe Abwägungen oder Pro-Contra Listen sind ungeeignete Vorgehensweisen. Wichtig ist, unter Unsicherheit nicht optimieren zu müssen. Wenn wir vor dem Kaffeeautomat stehen, können wir nicht allerlei Berechnungen durchführen. Unser Leben und unsere Zeit sind begrenzt. Wir müssen uns also effizient entscheiden.
Sollten wir Alltagsfragen also einfach dem Zufall überlassen?
Auf keinen Fall! Es geht darum, eine zufriedenstellende Wahl zu treffen. Von Bedeutung ist dafür unser Erfahrungswissen: Welche Informationen sind für mich persönlich relevant? Was sind die wichtigsten Informationen, die eine robuste Vorhersage ermöglichen?
„Pro-Contra-Listen sind ungeeignete Vorgehensweisen“
Der Austausch mit anderen ist hier wichtig. Allerdings muss man kritisch bleiben: Expert:innen können ein Eigeninteresse verfolgen. Auch die an sie gerichteten Fragen müssen stimmen, damit man eine hilfreiche Antwort bekommt.
Im Alltag spielt also Unsicherheit eine Rolle. Wie verhält es sich, wenn zum Beispiel Ärzt:innen eine Diagnose stellen müssen?
Um medizinische Diagnosen zu stellen, kann man in vielen Fällen auf durch Studien generierte belastbare Informationen zurückgreifen. Zum Beispiel wissen wir, dass wir von bestimmten Symptomen wie Fieber oder Hautveränderungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Erkrankung schließen können.
Die Analyse vergangener Fälle hilft uns für die Prognose des aktuellen Falls. Damit sprechen wir nicht mehr von einer Frage der Unsicherheit, sondern von Risikoabwägung.
Woran erkennt man, ob eine Information für die Entscheidung von Bedeutung ist?
Wichtig ist, nicht immer nur mehr Informationen zu generieren. Statt neuen Tests sollte man auf solche Informationen zurückgreifen, deren Bedeutung für die Entscheidung mit genug Fällen belegt sind – zum Beispiel angezeigt durch eine hohe Qualität der medizinischen Evidenz. Einen neuen Blutwert zu bestimmen, obwohl kaum Daten über einen Zusammenhang zur gesuchten Diagnose vorliegen, ist nicht sinnvoll. Genauso ist das auch bei künstlicher Intelligenz.
„Vor dem Kaffeeautomat können wir nicht allerlei Berechnungen durchführen“
Wie meinen Sie das?
Eine künstliche Intelligenz, die mit Hilfe von maschinellem Lernen arbeitet, erschließt sich Regeln aus vielen Einzelfällen. Bei der Modellierung ist es also entscheidend, welche Trainingsdaten genutzt werden. Sind die Informationen belastbar? Die vorhandene Ausgangsbasis an Informationen muss klug gefiltert werden, um belastbare Aussagen ableiten zu können.
Was sind die Stärken und Einschränkungen von künstlicher Intelligenz?
Bei der Beschreibung der Vergangenheit kann eine KI beliebig komplex werden und dadurch richtig liegen. Für neue Probleme Lösungen planen oder sehr seltene Ereignisse vorhersagen – für die es kaum Trainingsdaten gibt – kann KI hingegen bislang nicht. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet das Truthahn-Phänomen. Stellen Sie sich einen Truthahn vor, der jeden Tag vom Mensch gefüttert wird.
Allein aus der Beobachtung der Einzelfälle schließt der Truthahn auf eine gute Beziehung zum Menschen und sieht nicht vorher, dass Thanksgiving kommt und er geschlachtet wird.
Und das können Menschen besser?
Der Mensch hat eine hohe Anpassungsfähigkeit. Die Möglichkeit, sofort aus wenigen Informationen nützliche Entscheidungen abzuleiten zeichnet uns aus – vor allem in dynamischen Umwelten, in denen sich rasch Vieles ändert. Inwieweit künstliche Intelligenz damit umgehen kann, werden wir vielleicht in der Zukunft sehen.
Im Zweifel würde ich bei Problemen der Unsicherheit immer einem Menschen mit Erfahrung vertrauen.
Das Gespräch führte Anabelle Kachel
Anabelle Kachel studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2021 für den „ruprecht“. Während im Studium die funktionellen Zusammenhänge des menschlichen Körpers im Vordergrund stehen, fasziniert sie bei ihrer Arbeit als Redakteurin der Mensch in seiner Gesamtheit. Besonders gerne tritt sie direkt mit den Menschen in Kontakt und interessiert sich für Einblicke in ihre Lebensrealitäten und Ansichten. So führte sie zahlreiche Interviews, zum Beispiel mit dem Comedian Florian Schroeder oder dem Lokalpolitiker Sören Michelsburg.