Martin Walser ist einer der großen deutschen Gegenwartsautoren. Im Interview spricht er über Karl May, Nietzsche und die deutsche Teilung
Martin Walser ist hellwach mit seinen 87 Jahren. Im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) stellt er sein neues Buch „Shmekendike blumen“ vor. Während des Interviews leert er eine halbe Flasche Weißwein. Wenn er etwas betonen will, schlägt er mit zwei Fingern auf den Tisch. Und das tut er oft.
Vielen Dank, dass Sie zu dem Interview bereit sind.
Martin Walser: Bereit ist gut. (lacht)
Als erste Frage: Warum schreiben Sie über Sholem Yankev Abramovitsh?
Walser: Ich beantworte am liebsten Fragen, wo ich das Gefühl habe, es könnte den Frager interessieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das interessiert.
Doch.
Walser: Entschuldigung, aber warum sollten Sie sich dafür interessieren, dass ich schreibe. Überlegen Sie mal. Ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber da Sie ja kein abgefertigter Zeitungsroutinier sind, sondern noch relativ lebendig, nehme ich mir die Freiheit und bediene auch nicht eine Routine, denn diese Frage habe ich schon hundertmal beantwortet. Aber ich finde, Ihnen kann ich sie zurückwerfen und sagen: Entweder sie beantworten sie selbst einmal oder es ist unwichtig.
Sie haben in einem FAZ-Interview mal gesagt, durch die Auseinandersetzung mit Sholem Yankev Abramovitsh hätte sich ihr Verständnis vom Judentum eklatant verändert.
Walser: Durch den Abramovitsh? Entschuldigung, dadurch sind Sie auf die Zeitung hereingefallen. Ich habe nicht gesagt: „Durch Sholem Yankev Abramovitsh hat sich mein Verhältnis zum Judentum eklatant verändert.“ (klopft auf den Tisch) Sondern ich habe diesen fabelhaften Autor durch Susanne Klingenstein kennen gelernt und dann gelesen, gelesen, gelesen und das war eine Leseerfahrung wie ich ganz wenige hatte in meinem Leben. Ich habe ihn dann in meiner Privatgalerie einrangiert zwischen Swift und Kafka. Da gehört er in jeder Hinsicht hin nach meinem Leseeindruck. Dann habe ich also darüber geschrieben und habe meine Art von Hingerissenheit buchstabiert. Und die Presse hat daraus gemacht, dass sich mein Verhältnis vom Judentum verändert hätte. Das ist so medienmäßig saublöd. Die Medien gehen mit dir um, sie machen aus dir die und die Figur und dann bist du diese Figur. Dann lesen sie das, das passt aber nicht in die Figur also muss sie sich verändert haben. Der hat geschrieben: „Durch den Abramovitsh ist er aus einer Verblendung erlöst worden.“ Und da hat er natürlich gedacht: Paulskirchenrede, Abramovitsh. Das passt nicht zusammen. Es ist eben das, was mehrere Journalisten entweder nicht wissen oder gern vergessen.
Ich war, glaube ich, der einzige deutsche Autor, der auf dem Auschwitz-Prozess war. Ich habe über den Auschwitz-Prozess geschrieben: „Unser Auschwitz“. Ich habe einen Aufsatz geschrieben: „Auschwitz und kein Ende“. Da heißt der erste Satz: „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“ Ich hatte also ununterbrochen etwas, was Sie ein „Verhältnis zum Judentum“ nennen. Nur die Journalisten tun so, als sei ich mit der Paulskirchenrede auf die Welt gekommen und das ist so absurd.
Aber da lernen Sie eine Grundtatsache unserer öffentlichen Meinungskultur kennen. Und das ist auch weit über die Verantwortlichkeit eines einzelnen Journalisten hinaus. Die produzieren aus lebendigen Menschen Medienfiguren und glauben dann, dass seien die Menschen. Dann stellen sie nur noch fest ob alles, was noch passiert, zu dem passt, was sie aus dem gemacht haben. Und das muss ich sagen, was ich bei diesem Beispiel erlebte, es könnte einen auch traurig machen oder polemisch. Auf jeden Fall, für mich ist es absurd. Selbst wenn Sie es gut meinen.
Es stand da dann auch in der Zeitung: „Walser denkt um.“ Verstehen Sie, es ist ja keine Kunst, sondern ein allerhöchster Zwang, eine Notwendigkeit, dass wir diesem Thema ausgesetzt sind. Und da muss man doch nicht sagen: „Ich denke um, oder ich lenke um“. Wir sind hier in einer universitären Umgebung und das darf mich als Literaturmensch schon wundern, dass man, wenn man einen solchen Dichter wie den Abramovitsh, mit seinem Gegenstand kennenlernt, nämlich: Das jüdische Volk in den Siedlungsgebieten in Russland. Wenn man so etwas kennen lernt in dieser unglaublich fabelhaften, dichterischen Größe. Dann lernt man natürlich wie Juden leben, fühlen, träumen, beten. Das lernst du nicht in den Medien und wenn du mit dem Auschwitz-Prozess umgehst. Und dieses neue Erlebnis, das hat man eben der Literatur zu verdanken und nicht der Zeitung. Darin liegt der typische Medienkonflikt.
Was würden Sie denn Studenten wie uns empfehlen, zu lesen?
Walser: (Er nimmt einen Schluck Weißwein und überlegt kurz) Ja, ich beherrsche mich.
Oder anders gesagt: Was waren für Sie damals, als Student der Literaturwissenschaft, Texte, die Sie mitgerissen haben?
Walser: Na gut, ich möchte diese Frage jetzt nicht überspringen. Ich sage, dass ich zutiefst nichts davon halte, irgendjemandem irgendetwas zum Lesen zu empfehlen, es sei denn ich habe höchst persönliche Gründe und kenne ihn sehr gut. Aber natürlich, man kann ganz allgemein schon, solche – das Wort ist nicht so günstig – Empfehlungen geben. Man muss sie dann aber auch begründen und das könnte ich jetzt natürlich mit dem Abramovitsh tun. Ich könnte Ihnen den ganzen Abend sagen, warum sie vorerst bitte nichts anderes mehr lesen sollten, als die Bücher von dem. Es sei denn, Sie fangen an, die Bücher zu lesen und nach dreißig bis fünfzig Seiten zu sagen: „Das ist jetzt nichts für mich.“ Dann sollten sie es auch nicht lesen.
Ich habe auch Autoren gelesen zur falschen Zeit. Zwei Jahre später habe ich sie ungeheuer gern gelesen. Und ich damals, als ich so alt war wie Sie, da war ich natürlich schon tief drin und verloren als Leser. Ich habe mit Karl May angefangen und zwar 72 Bände. Das liegt an meiner Kindheit. Ich habe mir angewöhnt zu sagen, das muss bei mir mit meiner Mutter zu tun haben, die eine tief katholische und angstbesetzte Frau war. Ihre Angst hat sie beantwortet mit der Religion und die Angst war immer größer als die Religion. Aber sie hat religiöse Texte ihrer Angst entgegengesetzt. Das habe ich gerade noch so mitgekriegt.
Aber ich habe Karl May gelesen, das geht immer gut aus. Gut, dass der Winnetou umkommt, das habe ich dem Karl May nie verziehen. (lacht) Ich war auch als Kind durch meine Mutter angstbesetzt. Und dann hab ich angefangen zu lesen und habe damit nicht aufgehört, bis ich bei Dostojewski war. Lesen und Schreiben, das ist ein viel geringerer Unterschied, als die Wörter vermuten lassen. Lesen und Schreiben, das ist eine Bewusstseinstätigkeit.
Wie sind Sie denn zum Schreiben gekommen? Haben Sie Schreibrituale?
Walser: Danke nein, ich habe keine Schreibrituale. Ich bin zum Schreiben gekommen und das auf die einfachste Weise. Als ich schon fünf Jahre von meinem siebten bis zum zwölften gelesen und gelesen habe, dann irgendwann einmal habe ich dann auch auf dem Papier, das schwer genug zu erobern war damals, angefangen zu schreiben. Zum Beispiel mit Prosa habe ich angefangen: Das war vollkommen unsinnig, das konnte ich nicht, aber das wollte ich. Dann habe ich Gedichte gemacht. Natürlich. Das macht hoffentlich jeder jüngere Mensch. Das habe ich auch beibehalten.
Als ich 14 oder 15 war, da lernte ich einen gewaltigen Dichter kennen und lieben. Und zwar nur ein Buch von ihm: Stefan George. Das Buch heißt: Jahr der Seele. Und das ist so schön, wenn man mit 15 oder 16 diese Gedichte liest. (Er rezitiert zwei Zeilen aus einem Gedicht) Gut, man muss dafür vielleicht in Wasserburg wohnen und so existieren wie ich damals. Das hatte solch einen Schönheitsgrad, den es nirgends um mich herum, weder in der Kirche, noch auf dem Friedhof, noch im Gesangsverein gab. Nirgends gab es so etwas schönes. Ich weiß nicht womit heutzutage 15-, 16-, 17-Jährige ihr Schönheitsbedürfnis befriedigen. Ich hatte schon Hölderlin und Hölderlin ist natürlich noch gewaltiger als George. Hölderlin ist nicht so aufdringlich schön wie George. George ist aufdringlich schön. Hölderlin ist tief schön. Mit Hölderlin kann man ein Leben verbringen. Mit George nicht. Wenn man das hinter sich hat, die George-Epoche, dann war das halt toll, aber das war.
Würden Sie sagen, dass es sich für Sie daraufhin offensichtlich abgezeichnet hat, dass Ihr Beruf Schriftsteller sein muss?
Walser: Ich schätze das ist Schicksal. Du merkst allmählich, obwohl du alle Spiele in Wasserburg mitmachst, du kickst, du turnst, du schwimmst, wie alle anderen auch. Aber zusätzlich liest du. Dann studierst du. Was soll ich denn anderes studieren als Literatur? Also, dann bin ich da nach Regensburg und hab das dort studiert. Das war eine philosophisch-theologische Hochschule, wo es kaum Literatur gab. Da hat man dann selber Studententheater gemacht. Dann nach Tübingen und dort einen tollen Professor gehabt. Dort gab es die erste Entscheidung für Studenten damals. Machst du das Staatsexamen oder promovierst du? Und als ich diese Anforderungen auf mich zukommen sah war ganz klar: Niemals Staatsexamen, weil es hieß Lehrer zu werden. Das habe ich mir nicht vorstellen können.
Dann habe ich eben ganz meinen Neigungen folgend über Kafka promoviert. 1949 habe ich in einer Zeitschrift auf schlechtem Papier diesen Text gelesen über Kafka. Kein Mensch kannte damals diesen Namen. Franz Kafka, die Verwandlung. Ich habe das gelesen und es war wieder, wie bei George, ein Naturereignis. Ich habe dann fünf Jahre lang nur noch Kafka gelesen. Und dann musste ich meiner Mutter zuliebe, weil ein verkrachter Student in einem Dorf eine ganz schlechte Erscheinung ist, meine Mutter wäre von ihren Nachbarinnen schief angesehen worden, promovieren. Hab ich gemacht, natürlich über Kafka. Also war ich auf einer Spur.
Es ist klar, ich habe damals längst angefangen selbst zu schreiben. Das ist, glaube ich, ein ganz natürlicher Trieb, wenn man etwas liest, dann will man doch auch einmal schreiben. Das macht man dann halt. Ob das jetzt ein Beruf ist, davon kann nicht die Rede sein. Damit kann man weder etwas verdienen, noch gibt es eine Karriere, sondern du schreibst einfach.
Ist es dann eher eine Berufung?
Walser: Nein, das ist ein Begriff aus der Boutique. Nein, aber da muss man sich, das habe ich dann erfahren, das Schreiben finanzieren. Ich habe allzu schnell geheiratet, vom Versorgungsgesichtspunkt aus gesehen. Ich hatte dann allzu schnell ein Kind, eine Familie. Also musste ich auch arbeiten und etwas bringen. Das habe ich dann gemacht.
Die Umstände waren nicht schlecht, es lag auch an der Zeit, so dass ich ziemlich schnell beim Radio in Stuttgart anfangen konnte. Zuerst in den Semesterferien. Nach den Semesterferien hätte ich wieder zurückgemusst nach Tübingen ins Studium. Aber hier konnte ich schon Geld verdienen. Und da hab ich gedacht, das ist doch viel wichtiger, Geld zu verdienen. Und ich hätte beinahe Tübingen vergessen.
Dann war ich beim Radio von 1949 bis 1957. Ich hätte dort sogar, wie man so sagt, eine Karriere machen können. Aber das wollte ich nicht, ich wollte nie angestellt sein. Ich wollte immer nur frei sein, aber Geld verdienen. Das ist mir dort auch gelungen, bis es mir allmählich auch mit Hilfe von Krankheiten klar wurde, dass das zusammen so nicht geht: Radio, Fernsehen und das Schreiben.
Dann bin ich eben von dort weggezogen, zurück nach Friedrichshafen, um Schreiben zu können. Ich musste mir noch lange das Schreiben finanzieren, durch sogenannte Nebentätigkeiten. Im Grunde genommen bin ich erst unabhängig geworden, als ich fünfzig war, mit dieser kleinen Novelle „Ein fliegendes Pferd“. Von da ab lief es.
Sie sind ja mit 26 Jahren zu der Gruppe 47 dazugestoßen und sind dort regelmäßig zu den Treffen gegangen. Was ist Ihnen aus dieser Zeit geblieben?
Walser: Am liebsten würde ich sagen, weniger als nichts. Aber gut. Erstens habe ich den Preis bekommen. Ich muss dazu aber sagen, den habe ich bekommen, weil ich in diesem Betrieb schon Bekannte hatte. Ich wurde eingeladen zur Gruppe 53, 54, 55. Ich habe gelesen 1953 in Mainz, 1954 in Cap Circeo, 1955 in Berlin. Da kriegte ich den Preis, habe ihn genommen und wusste, hier werde ich nie wieder lesen und habe dann nie wieder bei der Gruppe gelesen. Ich fand das grauenhaft, die manipulierte Prozedur des Preisverteils. Aber ich hatte dann Freunde, also Schriftsteller, Kollegen. Die hätte ich ja nicht gehabt sonst. Man traf sich da. Ich hatte wunderbare Freundschaften. Uwe Johnson, Hans-Magnus Enzensberger. Ich will die Geschichtsschreibung nicht korrigieren, aber alles was über die Gruppe 47 öffentlich erzählt wird, verdankt sich einer typischen Medienoptik. Das man sagt: Die waren so kritisch und die waren das und das. Das war eine Freundschaft, das war prima. Und alles andere, alles politische, geschenkt.
Vermissen Sie trotz allem diese Freundschaften? Aktuell zum Beispiel mit dem Tod von Siegfried Lenz, kommt diese Ära langsam zu einem Ende.
Walser: Ein natürliches Ende. Den Siegfried Lenz kannte ich nur aus der Gruppe 47. Ich habe ihn nie irgendwo anders getroffen. Ich habe aber so mitbekommen, was er so gemacht hat. Ich fand ihn, ohne, dass wir jemals darüber sprechen mussten, in Form von Briefen zum Beispiel, von Anfang an prima. Aber er gehörte nicht zu den Freunden. Mein Hauptfreund war Uwe Johnson, das ist dann aber eher komisch, halb tragisch verlaufen, und Hans-Magnus Enzensberger und der Walter Höllerer. Ob ich das vermisse? Nein. Wie es auch ganz normal ist, haben alle diese Freundschaften, auch wenn die Befreundeten noch leben, zu einem natürlichen Ende geführt. Freundschaften verbrauchen sich, genau wie alles andere. Das ist gar nichts Schlimmes, gar nichts Böses. Irgendwann reicht es eben.
Was kommt denn in der deutschen Literatur nach der Gruppe 47?
Walser: Sie meinen, da müsste jetzt auch wieder so etwas kommen?
Die Gruppe 47 wird ja als eine Art „Literaturinstanz“ betrachtet.
Walser: Aber das war doch keine Instanz! Es war eine höchst manipulierte Medienerscheinung. Und das war das Talent von Hans-Werner Richter. Das ist doch lächerlich.
Das heißt Sie würden eine Aussage, wie „der deutsche Intellektuelle stirbt aus“ nicht unterzeichnen?
Walser: Der Intellektuelle ist kein Biotop, das durch Umstände aussterben kann. Weil: Dann sterben die Menschen aus. Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich ein Intellektueller bin. Aber sagen wir, es gibt typischere Intellektuelle als mich. Nur um ein Beispiel zu nennen: Der typischste Intellektuelle war Walter Jens. Den Intellektuellen wird es immer geben.
Was zeichnet für Sie Walter Jens als typischen Intellektuellen aus?
Walser: Dass er selbst an das glaubt, was er sagt. Seine Sprache, seine Begriffe, seine Wörter, seine Sätze überzeugen vor allem ihn selbst. Er kann alles kritisieren, nur nicht sich selbst.
Geht Ihnen das nicht auch so?
Walser: Sei vorsichtig. Denn das ist der Unterschied. Ich bin in dieser Beziehung nie ein Intellektueller gewesen. Ich war nie überzeugt. Ich könnten Ihnen jetzt meine Tagebücher zur Lektüre empfehlen. Da steht das alles drin. Und das ist im Grunde genommen der Unterschied zwischen einem Intellektuellen und einem Schriftsteller. Der Schriftsteller ist viel weniger von sich überzeugt als der Intellektuelle. Der Intellektuelle kann sich seine Überlegenheit beweisen. Weil er so gescheit ist, so gebildet ist. Der kann das beweisen, wie viel klüger er ist, als fast allen anderen. Der Schriftsteller kann das nicht. Ich habe da mal einen Satz geschrieben, der hieß: „Der Schriftsteller sagt etwas so schön, wie es nicht ist.“ Der Intellektuelle sagt es so wie es ist.
Aber zum Beispiel religiöse Fanatiker sind auch davon überzeugt, dass sie klüger sind als alle anderen. Sie glauben ebenfalls, dass sie die einzig wahre Überzeugung haben. Wo liegt da der Unterschied zum Intellektuellen?
Walser: Dafür gibt es ein mieses Wort, dass ich hier zum ersten und zum letzten Mal anwende: Intellektuelle sind Schreibtischtäter.
Etwas ganz anderes: Viele Ihrer Schriftstellerkollegen sind ja nach Berlin gezogen, oder in andere, sogenannte Kulturstädte. Aber Sie sind dem Bodensee treu geblieben. Gibt es dafür einen Grund?
Walser: Das Wort treu passt da überhaupt nicht. Ich wollte immer weg. Als ich noch mit Uwe Johnson befreundet war und er in West-Berlin war, hat er mir jeden Montag den Tagesspiegel geschickt mit dem Immobilien-Teil. Und ich habe es studiert und gesagt: Diese Villa nehmen wir. Die waren damals viel billiger, als die Häuser am Bodensee. Für 300.000 D-Mark kriegtest du da ein historisches Gebäude mit zwölf Türmchen und 3000 Quadratmetern. Ich war ganz fest entschlossen, dass wir wegmüssen von Friedrichshafen. Wir haben es nicht geschafft. Es war immer unser Spiel nach Berlin oder München zu gehen. Wir haben das ernsthaft vorgehabt.
Warum ist es gescheitert?
Walser: Woher soll ich das wissen?
Das klingt schon fast, als wären sie unzufrieden damit, dass sie am Bodensee geblieben sind.
Walser: Das wollten mir die Leute ja auch einreden. Zum Beispiel: Als ich anfing mich nicht einverstanden zu sehen mit der deutschen Teilung. Als ich sagte es geht nicht, für mich gehört Deutschland zusammen. Da hieß es in der Zeitung: Der vom Bodensee interessiert sich für die deutsche Teilung. Da sehen Sie, das war sicher ein Intellektueller der das geschrieben hat. (lacht) Für mich war Thüringen und Sachsen Heimat, weil ich Karl May und Nietzsche gelesen hatte. Und Karl May und Nietzsche konnten nicht im Ausland sein. Basta.
Als Leser habe ich reagiert. Das war das Schlimmste, Lächerlichste. Dass das gut ausgegangen ist, darauf trinke ich ewig. In eurer Lebensgeschichte wird es niemals so einen Glückstag geben, wie dieser Novembertag des Mauerfalls. Das war der größte Tag in der deutschen Geschichte. Und übrigens: Er wurde nicht von den Intellektuellen produziert, sondern von dem, was man das Volk nennt. Die Intellektuellen, und zwar auch der, den ich vorhin so genannt habe, die haben damals geschrieben: Deutschland seien zwar zwei Staaten, aber eine „Kulturnation“, ein Wort das von Intellektuellen kam. Die haben dieses Provisorium, als dass es ja auch gedacht war, verewigt als ewigen Zustand. Das gehörte zum Bestand meiner Verhängnisse.
Ich habe in meiner Paulskirchenrede, weil ich gedacht habe, ich spreche nur zu Deutschen und nicht auch zu jüdischen Mitbürgern, die eben auch Deutsche waren, gesagt: „Die Instrumentalisierung von Auschwitz.“ Das wurde mir furchtbar vorgeworfen, weil die jüdischen Mitbürger gedacht haben, ich meine damit irgendeine Wiedergutmachung. Ich meinte mit „Instrumentalisierung von Auschwitz“ nichts anderes als die Argumente von meinen Freunden und Kollegen, die gesagt haben, die Teilung sei die Strafe für Auschwitz. Das war für mich eine Instrumentalisierung. Die Teilung war keine Strafe für Auschwitz, das war das Interesse der umgebenden Nationen, dieses Deutschland endlich zu teilen. Und deswegen haben Sie versucht, diese Teilung zu rechtfertigen. Historiker, Professoren mit höchstem Namen, haben unglaubliche Argumente geschrieben, um die Teilung zu rechtfertigen. Einer der ehrwürdigsten Historiker, ich sage den Namen jetzt nicht, schrieb: Damit ist Deutschland endlich wieder auf seinem Stand, auf den es gehört. Nämlich im 19. Jahrhundert. Kinder, das war grotesk. Und ich am Bodensee durfte dazu sozusagen nichts sagen. Man sagte: Warum soll einer vom Bodensee so etwas sagen?
Was denken Sie dann von Europa und der europäischen Union?
Walser: Da denke ich, wenn ich muss, dass die Politik endlich liefern soll, was wir, die Schriftsteller, immer gewusst und gelebt haben. Mich als Beispiel. Ich habe Strindberg gelesen, als ich 18 war, Flaubert als ich 19 war, Dostojewski, immer. Wir waren nie national beschränkt. Wir waren immer Europäer. Strindberg war mir so nah, wie mir kein Deutscher je sein kann. Wegen seiner ungeheuren Fähigkeit zu leiden und dieses Leiden auszudrücken. Und Dostojewski sowieso. Und Flaubert wegen seiner Prosa. Also wir waren doch immer europäisch gesonnen. Ein Schriftsteller, der nur deutsch gesonnen gewesen wäre, der war absurd. Und jetzt soll die Politik doch mal eine Fassung liefern, die unserem europäischen Bewusstsein endlich entspricht.
Sie haben jetzt ja öfters die Medien und den Journalismus kritisiert. Was läuft denn Ihrer Ansicht nach schief im Journalismus.
Walser: Nein, ich sag ja nur meine Beispiele. Die Medien mögen ja ganz toll sein. Die Medien produzieren zum Beispiel Figuren oder Ideen, Manieren oder Moden. Aber wenn die Medien Menschen zu Medienfiguren machen. Zum Beispiel bei mir. Was bei mir passiert ist, das nannte man dann auch Skandal. Das ist ja ein Lieblingsthema der Medien: ein Skandal. Unsereiner hat ja auch gelebt nicht nur von dem, was wir jetzt Medien nennen, sondern von der Kritik. Es gibt und gab wunderbare Kritiker. Intellektuelle. Also Spezialisten. Miterlebende. Da habe ich überhaupt keinen Mangel an, wie nennt man das, Feedback. Also davon hab ich auch gelebt, dass die mich so gelten ließen. Ohne das hätte ich auch nicht sein können. Die Kritik findet auch in den Medien statt.
Was planen Sie denn als Nächstes?
Walser: Das war eine liebenswürdige Formel, aber die gibt es für mich nicht. Planen, als Nächstes. Ich bin in einem Produktionskontinuum, ununterbrochen. Schreiben ist eine Lebensart geworden. Wenn ich hier ins Hotel gehe, kann mir ein Satz einfallen, den ich leider dann einfach hinschreiben muss. Vielleicht kann ich ihn für meinen nächsten Roman brauchen. Man weiß ja nie. Insofern, sie haben ja Recht, in meinem Alter muss ich mir das Nächste buchstabieren. Ich habe leider noch mehr Projekte, als ich realisieren kann. Das ist mein Pech. Deshalb muss ich mir auch sagen lassen bei jedem Buch: Jetzt ist er so alt. Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Und das sind ja Intellektuelle die das sagen. Dass da einer einmal sagen würde, was ich mir selber sage: Toll.
Herr Walser, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führten Dominik Waibel und Philipp Armingeon.