Der Wert von Frieden, Anständigkeit und Solidarität: Experten setzen Statements zum russischen Angriffskrieg bei einer Podiumsveranstaltung in der Heidelberger Stadtbücherei
„Wie wehrhaft ist Europa?“- Diese Frage hängt zunächst unbehaglich in der Luft, während Wolfgang Erichson, stellvertretender Bürgermeister Heidelbergs mit seiner Begrüßung fortfährt. Das im Hilde-Domin-Saal erschienene Publikum wird noch den ganzen Abend den geladenen Experten zuhören, zunächst hat jedoch auch Andreas Kaprocki, stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft e.V. (DUG), eine ebenso drängende Frage: „Wie kann man bei dieser Sache neutral sein?“ Die Sache. Das ist der Russische Angriffskrieg, gegen den sich die Ukraine seit nun über einem Jahr verteidigt und zu dessen Anlass der Ortsverein Rhein-Neckar der DUG mit einer Podiumsveranstaltung am vergangenen Freitag eine Einordnung zu Narrativen und Diskussionen über jenen Krieg veranstaltet hat.
„Russland muss verlieren lernen“, unterstreicht Michael Gahler, Mitglied des Europäischen Parlaments die Dringlichkeit eines vereinigten Westens. Der hessische CDU-Politiker wurde erst im Dezember mit einem Verdienstorden zweiter Klasse durch Wolodymyr Selenskyj ausgezeichnet. Nun zählt er auf, welche wichtigen Maßnahmen die EU der sich immer noch verteidigenden Ukraine hat zukommen lassen. Dennoch, trotz der schnell erlassenen Massenzustromsrichtlinie, der humanitären und finanziellen Hilfe: „Ohne die USA und Großbritannien wäre die Ukraine schon längst re-sowjetisiert.“ Gahler gesteht ein, dass ein Großteil der militärischen Unterstützung zunächst nicht aus der Union gekommen ist. Neben mehr Lob für alle westlichen Länder, die sich vereinigt solidarisch mit der Ukraine zeigen, betont er einen Aspekt, der noch öfter an diesem Abend betont wird. „Deutschlands Verbrechen sollen ein Anlass sein“, ein Anlass, sich klar auf Seite der Angegriffenen zu stellen.
Klaus Gestwa, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen knüpft an die Vergleiche zum zweiten Weltkrieg an. Es drohe eine Rückkehr zu den Verhältnissen dieser dunklen Geschichte Europas. Putins hybride Kriegsführung beinhalte auch eine gefährliche Form des Geschichtsrevisionismus. So finde laut Gestwa in der Ukraine ein „erbittertes Ringen um Vergangenheit und Zukunft statt“. Doch noch eine zweite, besorgniserregende Entwicklung sieht der Historiker, der mit einem Faktencheck-Video im Februar über eine halbe Millionen Klicks und somit auch Internetprominenz erlangte: „Die Linken in Deutschland sind besorgt um ein Wiederaufleben der NATO“, attestiert er und sieht darin die Begründung, warum viele Persönlichkeiten aus der Politik in Deutschland weiterhin eine Täter-Opfer-Umkehr zugunsten Putins betreiben. Dass die Osterweiterung des transatlantischen Bündnisses Russland umstellt habe und der Angriffskrieg somit mit Notwehr zu vergleichen sei, ist laut Gestwa „verzerrte Propaganda“, disruptiv für die Auseinandersetzung mit dem Krieg in Deutschland. „Der Anti-Amerikanismus“ reiche bis tief in die Linke aber auch die SPD hinein und somit zeichne sich eine „traurige Kontinuität von Aleppo bis in die Ukraine“. Auch im syrischen Bürgerkrieg fand, so Gestwa, schon eine falsche Einordnung der Lage durch die deutsche Links-Szene statt.
In der letzten Rede des Abends führt Winfried Schneider-Dieters die Erklärungen seiner Vorredner weiter aus. So schließt der ehemalige Leiter des „Kooperationsbüros Ukraine“ der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem Vergleich zu Hitlers Angriff auf die Sowjetunion an: „Putin strebt die Endlösung in der Ukraine an!“ stellt er fest und pocht darauf, dass die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch Europa als Ganzes beschütze. Die Freiheit der BRD werde nun auch in der Ukraine verteidigt, zitiert Schneider-Deters indirekt SPD-Politiker Peter Struck und schließt an, dass ein Erfolg der Russen noch verheerendere Folgen in ganz Europa haben könnte: Moldawien, Georgien, das Baltikum, sogar Polen könnten potenzielle Angriffsziele werden. Auch die „Erpressung des Westens“ durch eine „atomare Androhung“ verurteilt er, denn während im Kalten Krieg noch Nuklearwaffen nur zur Absicherung dienten, wurde hier durch Putin ein sehr düsterer Wendepunkt markiert. Der Schluss seines Statements wird durch ein überzeugtes „Slava Ukraini!“ gesetzt, worauf ihm ein ebenso lautstarkes „Herojam slava!“ aus dem Publikum zurückhallt, eine durch den ukrainischen Bürgerkrieg der 1920er Jahre geprägte Antwort, die ungefähr mit „Ruhm den Helden!“ übersetzt werden kann.
Auch Oleksi Makelev, neuer Botschafter der Ukraine in Deutschland, kann sich per Video einbringen: „Der Sieg der Alliierten gab uns Werte bis heute, diese Werte kann man verteidigen.“ Sein Land stehe nicht erst seit dem 24. Februar 2022 unter russischem Angriff, jedoch habe Vladimir Putin ganz Europa in seiner Unterstützung mit dem Verteidiger unterschätzt. Auch eine deutliche Forderung teilt er mit: die NATO bleibe die einzige Sicherheitsgarantie gegenüber dem Aggressor Russland und somit stehe der Ukraine nach Kriegsende auch ein Platz in ihr zu.
Die abschließende Frage „Was kann Europa von der Ukraine lernen?“ können alle drei Experten präzise beantworten: Die Erkenntnis über den Wert des Friedens, Anständigkeit und Solidarität.
Von Justus Brauer
… hielt schon immer gerne eine Zeitung in der Hand. Seit Frühling 2023 kann er seine Begeisterung für den Journalismus beim ruprecht ausleben.