Die Stadt wirkt wie ausgestorben, eine gespenstische Stille liegt über ihren nächtlichen Straßen. Die Busse, sonst so überfüllt, schnaufen leer die Alameda hinunter. Kein einziges Taxi ist zu sehen. Am Abend des 11. September scheint Santiago de Chile menschenleer.
Tatsächlich hat dieser Tag eine besondere Bedeutung für Chile. Zum vierzigsten Mal jährte sich vor drei Monaten der Militärputsch General Augusto Pinochets gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Die darauf folgende Militärdiktatur spaltet chilenische Gesellschaft auch mehr als zwanzig Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie noch immer. Während konservative Eliten in ihrem deutschen Stammlokal „Lili Marleen“ an diesem Abend den „Tag der Befreiung“ feiern, organisieren Menschenrechtsorganisationen Protestmärsche im Gedenken an die „Verhaftet-Verschwundenen“, die Opfer der Militärdiktatur. Über 3000 Menschen verschwanden unter Pinochets Herrschaft spurlos. Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Heute fordern rechte Politiker „Versöhnung“, während zahlreiche Menschenrechtsverbrechen nach wie vor der Aufklärung harren. Aus Angst vor Randalen verlässt an diesem Tag kaum jemand das Haus, denn wie jedes Jahr nutzen auch dieses Mal einige Radikale die Gelegenheit, um den Jahrestag auf ihre Weise zu begehen: In Santiagos Vorstädten brennen Busse und Straßenbarrikaden. Alles in allem jedoch verläuft der Tag ruhig, Todesopfer bleiben aus.
Nur eine Woche später, am 18. September, scheint Chiles Hauptstadt gänzlich außer Rand und Band geraten zu sein: Die Nationalfeiertage legen das gesamte Land für eine Woche lahm. Flaggen zieren jedes größere Gebäude, Jahrmärkte zelebrieren Folklore sowie den Nationaltanz Cueca und unter kräftigem Alkoholeinfluss scheint das Gedenken an die Vergangenheit vorerst vergessen. Man feiert den Nationalstolz, 40 Menschen sterben in Verkehrsunfällen.
Diese Septemberwoche präsentierte deutlich wie selten ein Land im Zwiespalt, gefangen zwischen Aufbruch und Vergangenheit. Chile ist längst nicht mehr nur durch Naturkatastrophen wie das Erdbeben von 2010 bekannt. Die hiesige Studentenprotestbewegung erreichte internationale Aufmerksamkeit, ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung der aufstrebenden Nation. Auch Santiago ist eine moderne Stadt, in ihrem Zentrum spiegeln sich Werbeplakate für Flachbildfernseher in den Glasfassaden der modernen Wolkenkratzer. Wer im morgendlichen Berufsverkehr auf Linie Eins der Metro angewiesen ist, muss damit rechnen, sich in einem heillos wirren Knäuel aus Gliedmaßen zu verstricken. Bekannte Künstler aus aller Welt besuchen Santiago und man munkelt sogar, in „Sanhattan“ koste der Quadratmeter Wohnraum mehr als in der Münchner Innenstadt.
Doch nur wenig außerhalb der teuren Viertel im Nordosten der Stadt bietet sich dem Betrachter ein grundlegend verschiedener Anblick. In den Vierteln, die auf den Karten der Sozialstatistiker als weiße Flecke erscheinen, weil sich niemand dorthin wagte um Daten zu erheben; dort, wo sich improvisierte Holzhütten an den Ufern des Río Mapocho, mehr Kloake als Fluss, entlangziehen; vor dem großen Markt, wo Straßenhändler versuchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während jemand in einem Hauseingang seinen Rausch ausschläft; hier offenbart sich die Kehrseite der chilenischen Modernität in harscher Klarheit.
Während das Land in großen Schritten dem Ideal der westlichen Moderne entgegeneilt, werfen tiefgreifende soziale und ökonomische Konflikte Fragen über die Richtung dieser Entwicklung auf. Die freie Marktwirtschaft, eingeführt unter der Ägide Pinochets, hat Chile starke Wachstumsraten beschert. Doch die große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung profitiert kaum von diesem Fortschritt. Auch wenn die absolute Armut in den letzten Jahren abgenommen hat, schließen das enorm teure, private Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem weite Teile der Bevölkerung von einer gleichberechtigten Teilhabe am öffentlichen Leben aus. Die Studiengebühren für ein Semester an der renommierten Katholischen Universität Santiagos beispielsweise übersteigen ein gesamtes Jahresgehalt des gesetzlichen Mindestlohns. Kaum ein Student, der nicht das Glück hat, als Kind reicher Eltern geboren worden zu sein, kommt ohne Stipendien, Kredite und Nebenjobs aus. So reproduzieren sich etablierte gesellschaftliche Strukturen; in Chile bestimmt nach wie vor, zumindest gefühlt, die Herkunft den weiteren Lebensweg.
Doch in den letzten Jahren scheint sich ein gewisser Bewusstseinswandel abzuzeichnen: Der mit Konsumkrediten erkaufte hohe Lebensstandard der chilenischen Mittelschicht scheint nicht länger über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass das chilenische Entwicklungsmodell die gesellschaftliche Kluft weiter verschärft. Was vor zwei Jahren als Demonstration von Schülern und Studenten gegen die immensen Studiengebühren begann, weitete sich zusehends aus: Zunächst noch gegen das Konzept von Bildung als Ware, die „Bildung Pinochets“, gerichtet, griff die Kritik am Feindbild „lucro“ (in etwa: Gier, Gewinn, Egoismus) bald auf weitere gesellschaftliche Bereiche über und gewann Sympathien breiter Bevölkerungsschichten. Mittlerweile zieren Slogans wie „Die Universität verändern heißt Chile gestalten“ die Wahlplakate der Studentenvertreter. Vor allem in jungen, linken und gut ausgebildeten Milieus ist der Drang spürbar, mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit aufzuräumen.
Dennoch ist die Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel gering. Zwar ging die linksgerichtete Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet, die das Land bereits von 2006 bis 2010 regierte, aus den vergangenen Wahlen vom 17. November als deutliche Siegerin hervor; ihr Sieg in der anstehenden Stichwahl gegen die Konservative Evelyn Matthei steht zu erwarten. Sogar einige ehemalige Studentenführer schafften den Sprung ins Parlament. Doch mittlerweile sind zweieinhalb Jahrzehnte sind seit dem Ende der Diktatur Pinochets vergangen und eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen Grundordnung ist ausgeblieben. „Viele sind der Ansicht, dass es eine neue Verfassung braucht, um Reformen zu realisieren“, meint Marcelo Salgado, Student der Politikwissenschaften. „Die Studentenbewegung, soziale Bewegungen und die radikale Linke sehen das skeptisch, wenn man bedenkt, dass die politischen Akteure dieselben sind, die seit 1990 pragmatisch dieselbe Politik machen, die heute Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit produziert.“
Chile scheint in einer ähnlichen Situation wie Deutschland vor etwa vierzig Jahren: Eine junge Generation hinterfragt die Grundlagen einer Gesellschaft, die in weiten Teilen auf einer düsteren Vergangenheit fußt und nicht mehr als die ihre wahrgenommen wird. In dieser Hinsicht sind die heutigen Studentenproteste das chilenische Äquivalent zu den deutschen 68ern und die konservativen Lobeshymnen auf Pinochet, der ja immerhin für Ordnung gesorgt und die Wirtschaft gerettet habe, erinnern ungemein an Hitlers Autobahnen. Damals wie heute scheint ein gesellschaftlicher Wandel nur dann möglich zu sein, wenn sich die Gesellschaft ernsthaft ihren Ursprüngen stellt. Marcelo hofft, „dass die neue Regierung entweder auf die sozialen Forderungen eingeht oder vielmehr als Katalysator für eine neue Protestwelle gegen ein Modell in der Krise wirkt“. Vielleicht können deutsche Studenten von ihren chilenischen Genossen noch einiges lernen.
von Paul Eckartz