Das Gebiet im russischen Majak ist stark verstrahlt. Dennoch ist wenig über die nuklearen Unfälle bekannt.
[dropcap]I[/dropcap]n diesem Jahr jährt sich die Atommüllexplosion des Chemiekombinats Majak in Sowjetrussland zum 60. Mal. Obwohl die auch als Unfall von Kyschtym bekannte nukleare Katastrophe nach Tschernobyl und Fuku-shima die drittgrößte der Geschichte ist, gelangten erst 1989 Informationen über die verseuchte Landschaft im Süd-Ural an die Öffentlichkeit. Die Heidelberger Historikerin Laura Sembritzki erforscht nun die lang geheim gehaltene Katastrophe in ihrem Dissertationsprojekt, das in einem Forschungsverbund des Heidelberger Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte und den Universitäten Tübingen und Bern zu nuklearer Technopolitik angesiedelt ist.
„Es gab nicht den einen Unfall, der zur Verseuchung des Gebietes um Majak geführt hat“, leitet Sembritzki ein. Am schwerwiegendsten für die Region sei das planmäßige Einspeisen von Atommüll in den Fluss Techa gewesen. Nach damaligem Wissensstand war dies nicht bedenklich, da sich der Atommüll im Wasser ausreichend verdünnen würde. Von 1951 bis 1953 gelangte Radioaktivität auf diese Weise in das Flusssystem – und führte zu der wohl weltweit stärksten Kontamination eines Gebietes. Noch heute spricht das Auswärtige Amt für die verseuchten Landstriche eine Reisewarnung aus. Sowohl 1957 als auch 1967 gelangten radioaktive Substanzen durch schwere Explosionen des Atommülls in die Atmosphäre. Neben der zivilen Bevölkerung waren das in der Region um Majak stationierte Militär und die Arbeiter eines Gulags betroffen. Die Evakuierung der Bevölkerung erfolgte allerdings erst ein bis zwei Wochen nach der Katastrophe. Erstaunlicherweise wurde die Anlage bei Majak bereits 1959 wieder in Betrieb genommen, um Plutonium für Waffenprojekte der UdSSR herzustellen.
In russischen Archiven geht Sembritzki der Atomkatastrophe von Kyschtym auf den Grund. „Geheimhaltung ist ein Riesenthema“, erklärt sie. Radioaktivität wurde in der Sowjetunion in sogenannten geschlossenen Städten erforscht. Diese waren geheim, auf der Landkarte nicht zu finden und direkt der Regierung in Moskau unterstellt. Da Osjorsk, die Stadt bei Majak, heute immer noch geschlossen ist, erhält Sembritzki keinen Zugang zu dieser und ihren Archiven. Darüber hinaus handelt es sich bei den Quellen meist um militärische Dokumente, die unter Verschluss gehalten werden. Der Deklassifizierungs-Kommission der 1990er-Jahre ist zu verdanken, dass zahlreiche Akten heute trotzdem einsehbar sind, so etwa in Čeliabinsk oder Sverdlovsk. Gerade in den regionalen Archiven um Majak findet Sembritzki Abschriften, zu denen sie in Moskau keinen Zugang hätte, etwa Erlasse von Umsiedelungen. Da diese häufig in verkürzter Form überliefert sind, bleiben jedoch viele Leerstellen.
Seit ihrem letzten Forschungsaufenthalt in Russland vor zwei Jahren sei die Zugänglichkeit zu den Archiv-quellen schwieriger geworden und mit größerem bürokratischem Aufwand verbunden, bedauert Sembritzki. „In Jekaterinburg hatte ich das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Das Parteiarchiv hält die Quellen zum Unfall von 1957 weiterhin unter Verschluss.“
Unbekannt ist, wie geheim die Katastrophe in Russland tatsächlich gehalten werden konnte: Etwa 300 000 Menschen waren betroffen, Zehntausende mussten umgesiedelt werden, zahlreiche Dörfer verwaisten. Unbemerkt blieben gewiss nicht die Militärs und Gefangenen, die zur Beseitigung der unmittelbaren Kontaminierung in das Gebiet entsandt wurden – ohne sie vor den gesundheitlichen Auswirkungen zu warnen.
Grund für die Verschleierungstaktik war neben der allgemeinen Geheimhaltung nuklearer Forschung auch das Wettrüsten im Kalten Krieg: Das Eingeständnis eines Unfalls wäre für die sozialistische Führung ein öffentlichkeitswirksames Desaster gewesen.
Erst Ende September waren erhöhte Ruthenium-106-Werte in Europa gemessen worden, deren Ursache ein Unfall bei Majak sein könnte. Die russische Regierung dementierte dies jedoch. Die Geheimhaltung um atomare Forschung scheint den Zusammenbruch des Kommunismus also überlebt zu haben.
Von Lea Dortschy und Elizaveta Bobkova